Mein Vater war Lehrer. Als Vorschulkind durfte ich jeweils mit, wenn er mit seiner Klasse auf die Schulreise ging. Ein Abenteuer für mich. Ich liebte es. Alle hatten gute Laune, waren fröhlich und unbeschwert, und ich schaute zu den grossen Schülerinnen und Schülern auf. Sie waren aus meiner Perspektive ja fast schon Erwachsene. Vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Eine Sorge aber schwebte den ganzen Tag über diesem Ausflug wie ein Schatten. Wenn wir nur ja niemanden verlieren! Wenn uns nur ja keiner dieser Teenager abhandenkommt! Alle gesund und heil wieder nach Hause zu bringen, war das oberste Ziel meines Vaters.
Ich erinnere mich, wie es mich beschäftigte. Wie geht jemand verloren? Während wir auf dem Schiff über den Vierwaldstättersee fuhren, stellte ich mir vor, wie der See eine Schülerin verschluckt. Für mich war der See das Meer, meine Kinderaugen sahen nur Wasser, Wellen und Weite. Auf der Wanderung kurz darauf fürchtete ich, dass ein Schüler am Ende der Gruppe nicht mehr um die nächste Wegbiegung kommen würde. Dass er abgestürzt war, in den Abgrund gefallen, nicht mehr zu finden. Für meine Kinderaugen und meine kleine Seele war damals alles riesig, unendlich und endgültig. Verloren gehen in einer mittelgrossen Schweizer Stadt oder auf einem Berg oder einem See bedeutete für mich, im Universum zu verschwinden. Spur- und lautlos. Für immer. Ein grosses Unglück.
Ein Trost war der heilige Antonius. Er widerlegte die Behauptung des endgültigen Verlusts. Der Franziskanerpater aus Padua, der eigentlich Portugiese war. Und eine der Figuren in der Kirche, die auf uns herabschauten von der weissen hohen Wand: braune Mönchskutte, Tonsur und ein Gesicht, in dem ich Geduld und Vertrauen las. Bei jedem Schlüssel, der verloren ging, kam er ins Spiel. Meine Mutter glaubte nicht an vieles, aber sie hatte den einen oder anderen Liebling unter den Heiligen. Antonius war ihr einer der nächsten. Er half immer und fand einfach alles. Oft auch für uns Kinder das Vertrauen und die Zuversicht bei einer Prüfung in der Schule. Ein guter Geist, an den man sich halten konnte. Zu dem man betete. Und den man auch bestach. Mit einem Fünfliber ins Kässeli unter seiner Statue in der Kirche. Eine Kindheitserinnerung, tiefes Engramm, physiologische Spur im Gehirn.
Aber ein Geheimnis konnte und kann auch Antonius nicht lösen: Warum verliere ich immer die kostbaren, die liebsten Dinge? Die mir viel bedeuten. Die mich oft jahrzehntelang auf der Reise durchs Leben begleiteten. Ohne die ich nicht sein will. Und plötzlich – weg. Verloren. Etwas Hässliches, etwas Überflüssiges, Lästiges aber bleibt meist da, lässt sich nicht abschütteln. Warum ist das so?
Verlieren und mir gehören sind ein Paar. Was mir oder zu mir gehört oder mir anvertraut ist, kann ich verlieren. Nur – was gehört mir denn?
Kürzlich sass ich in der Rhätischen Bahn einer Frau gegenüber, die aus dem Unterland nach Bergün fuhr. Und die während der ganzen Reise nicht darüber hinwegkam, dass sich der Zug verspätete. Auf dem Schienennetz waren Bauarbeiten im Gange. «Eine ganze Stunde hab ich deswegen verloren», klagte sie immer wieder. Während wir durch die schönste Herbstlandschaft mit leuchtenden Lärchen fuhren. Sie hatte keinen Blick dafür. Mir schien, die Bäume wiegten sich fast ein wenig lächelnd im Wind.
Die Zeit verlieren kann nur der Mensch.
Und das Gesicht. Und das Spiel. Den Mut. Die Eltern. Die Hoffnung. Die Arbeit. Die Geduld. Den Faden. Das Vermögen. Den Krieg. Die Zuversicht. Den Einfluss. Das Gedächtnis. Das Kind. Die Wohnung. Die Macht. Endlos die Liste.
Verlieren kann ich auch die Angst. Und feststellen, dass sie gar nicht «meine» war. Sie kommt und geht. Auf Besuch. Bleibt länger oder gar nicht. Oft ohne Ankündigung und ohne Abschied. Ähnlich wie der Mut. Die Hoffnung. Alles andere.
Das bringt meine ganze Person ins Wanken. Eine Erfahrung, die entweder erschüttern kann oder befreien. Alles, was mich – scheinbar – ausmacht, ist nicht fest und starr, sondern fliesst und strömt, verändert sich, nimmt neue Formen an. Ich – ein immer wieder Neues, Anderes. Ich, das sich immer weniger benennen und charakterisieren lässt.
In aufgewühlten Zeiten wie der heutigen, in denen das Bedürfnis so stark ist, sich zu positionieren, eine feste Meinung zu haben, der bessere Mensch zu sein, mag das seltsam klingen. Doch vielleicht ist dieses Bewusstsein gerade jetzt notwendig. Je klarer wir uns selber sehen wollen, umso deutlicher umreissen wir auch den anderen. Je moralischer ich mich selber zeichne, umso verwerflicher erscheint die andere. Es potenziert sich bis zum Extrem. Spaltet. Trennt. Und öffnet das Tor zu noch mehr Härte und Gewalt.
Verlieren wäre wichtig. Zum Beispiel lang gepflegte und gelebte Gewissheiten. Dann stürzten die Mauern von allein ein. Und die Grenzen weichten sich auf.
Licht und Finsternis offenbaren sich in einem Tanz, in dem es keine Trennung gibt, heisst es bei einem Mystiker. Ein einziges Lied. Das sich immer neu komponiert und formt. Verliert und wieder – anders – findet. Wie unser individuelles Dasein im Universum.
«Temporarily on Earth». Das schreibt eine Journalistenkollegin, die im Nahen Osten arbeitet, auf ihrem Twitter-Account. Dort, wo andere ihre ganze berufliche Laufbahn ausbreiten, macht sie bloss diese Anmerkung. «Nur auf Zeit hier auf Erden». Das Leben als Leihgabe. Als Geschenk, das sich nicht benennen und charakterisieren lässt. Weil es sich aus jedem Moment neu schöpft.