Aus bis heute ungeklärten Gründen wurde Vre Karrer vor zwanzig Jahren in ihrer Wohnung an ihrem letzten Wirkungsort Merka im Süden Somalias erschossen. Es handelte sich dabei nicht um einen Überfall, wie Vre schon mehrere mit Zivilcourage und geschicktem Verhandeln überlebt hatte, sondern um gezielten Mord.
Grund genug, dieser unermüdlichen Pazifistin und religiösen Sozialistin in dem Heft zu gedenken, dessen Titel ihrem Unterstützungsverein den Namen gab: «Neue Wege». Nach Vre Karrers Tod führte der «Förderverein Neue Wege» ihre Arbeit in Merka fort.
1932 geboren, wuchs Verena Martha Karrer als mittleres von drei Kindern zuerst in der landwirtschaftlichen Kommune in Rüschlikon und dann in Zürich-Leimbach und -Oerlikon auf. Ihre Familie war pazifistisch geprägt und Teil der religiös-sozialistischen Bewegung um Leonhard und Clara Ragaz. Schon als Kind besuchte Vreneli mit ihrer Familie den Gartenhof in Zürich, das Epizentrum der Genoss*innen.
Nach ihrer Ausbildung zur Hebamme und Krankenschwester arbeitete sie engagiert in diesen Berufen und war nach den erforderlichen Weiterbildungen auch als Dozentin für Krankenpflege tätig. Vre sprach sich dezidiert für die Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper aus, auch in schwierigen Fragen wie einem Schwangerschaftsabbruch. In einem Referat am 3. Meeting des Aktionsforums «MoZ Mutterschaft ohne Zwang» sagte sie 1987: «Eine unerwünschte Schwangerschaft ist eines der Risiken, mit denen wir Frauen leben müssen. In diese Lage kann jede gesunde Frau geraten, darum kann sich keine von diesem Problem distanzieren. […] Frau bin ich, ganz unabhängig davon, ob ich Kinder gebären will oder nicht. […] Die Frau, die sich für einen Abbruch entschlossen hat, ist nicht krank. Im Gegenteil, sie allein ist in der Lage, ihre Lebenssituation umfassend zu beurteilen. Sie kann abwägen, was für sie in körperlicher, seelisch-geistiger und sozialer Hinsicht gut ist. Letzten Endes übernimmt ja auch sie allein die Verantwortung und trägt alle Konsequenzen.»1
Aufgrund eines Arbeitskonflikts wohl ungerechtfertigt entlassen, reiste Vre Karrer 1993 im Alter von sechzig Jahren nach Somalia. Hier gründete sie zusammen mit den Einwohner*innen der Hafenstadt Merka die Krankenstation «Neue Wege» bzw. «New Ways», benannt nach der schweizerischen Geberorganisation. Sie widmete sich der Ausbildung von Einheimischen in Pflegeberufen. Später kamen ein Ambulatorium und eine Primar-, Sekundar- und Mittelschule dazu. Ein weiteres Herzensanliegen war ihr eine Berufsschule, in der Theorie und Praxis Hand in Hand gehen sollten. Denn Vre war seit jeher eine Verfechterin einer lebensnahen Ausbildung: «Es ist entscheidend, dass wir einsehen: Unterrichten heisst lernen, und lernen heisst unterrichten. Schule verlangt von allen ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Um jemanden unterrichten zu können, muss ich zusammen mit ihm und von ihm lernen. Die Spaltung dieses Prozesses in Unterrichten und Lernen ist aufgehoben.»
Als Start für ihr Engagement setzte Vre ihr Pensionskassenguthaben ein. All die Jahre bezog sie keinen Lohn. Finanziert wurden die Institutionen, wie später auch noch eine landwirtschaftliche Genossenschaft, durch Spenden aus dem Umfeld der Friedensbewegung in der Schweiz und der Zeitschrift Neue Wege sowie durch die Stiftung ihrer Freundinnen, der ehemaligen Neue-Wege-Redaktorinnen Berti Wicke und Helen Kremos. Weitergeführt wurde ihr Werk u. a. auch durch Jenny Heeb, Vorstandsmitglied des Schweizerischen Friedensrates, die sich bis zu dessen Auflösung 2014 als Präsidentin des «Fördervereins Neue Wege» engagierte.
Der Genossenschaftsgedanke war für Vre Karrer sehr wichtig. Sie begriff ihn als sozial-ethisches Prinzip jenseits von Trends und als Verwirklichung des «Reiches Gottes» im Hier und Jetzt. Schon während ihrer Zeit in der Schweiz war sie dieser Organisationsform zugetan, etwa bei ihrer Tätigkeit im alternativmedizinischen Kollektiv «Plaffenwatz» in Zürich.
Vre Karrer war stark geprägt durch das pazifistische Denken und Wirken von Clara Ragaz-Nadig, welche die Friedens- und die Frauenbewegung in der «Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit» verbunden hatte. Angesichts des Bürgerkriegs an ihrem Wirkungsort Somalia schrieb Vre Karrer in einem ihrer zahlreichen Briefe, die sie an Bekannte, Verwandte und an den Freundeskreis schickte, der ihre Projektarbeit unterstützte: «Merka, 11. Dezember 1994 […] Mein Gott, ich schreibe Anti-Amerika-Berichte! Aber ich habe nichts Gutes gesehen hier in Somalia von den Amerikanern – bis auf die Hilfe Einzelner bei der Cholera-Epidemie. Es scheint, dass Menschen im Militärdienst vergessen, selber zu denken. Sobald sie in Gruppen auftreten, funktionieren sie nach Vorschrift. Sie tun das, wozu sie abgerichtet wurden. Sie reagieren als Soldaten, nicht als Menschen. Diese Gruppen sind ständig auf Verteidigung getrimmt und rennen grundlos mit ihren Maschinengewehren und Mordinstrumenten umher oder rattern mit Panzern und Raupenkolossen durch die Gegend. Sie sind beziehungslos, diese für Kriegszwecke abgerichteten Marionetten. Nein, Frauen und Männer in einer UNO-Friedenstruppe dürfen nicht Waffen tragen, sondern müssen ihre Hände frei haben für Handwerk und Hilfe.»2
Immer wieder kam Vre Karrer auch in der Zeitschrift Neue Wege zu Wort, beispielsweise zum Thema «Frieden mit UNO-Waffen – Erfahrungen in Somalia».
Auffallend ist, dass sie damals bereits das Thema «Care» aufnahm. Sie reflektierte ihre Erfahrungen in einem Land, in dem es am Allernötigsten fehlt, in dem alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen grösstenteils zusammengebrochen sind. Sie beschrieb, wie die eh schon dürftige Infrastruktur Krieg und Zerstörung zum Opfer fiel und wie Frauen und Kinder besonders leiden. Ganz auf der Linie von Clara Ragaz-Nadig war sie mit ihrer Haltung, dass Militär und Waffen keinen Frieden bringen: «Die UNO-Truppen müssten ganz anders ausgebildet und die Hälfte von ihnen müssten Frauen sein und unbedingt unbewaffnet. […] Frauen wissen, was es zum Leben braucht. In Somalia sind es ja die Frauen, die im Moment alle Arbeit leisten, während die Männer Krieg führen. Wir müssen auch lernbereit auf diese Frauen zugehen, mit ihnen leben und uns einfühlen in ihre Kultur. UNO-Soldaten oder -Soldatinnen, wenn sie denn noch so heissen sollten, müssten sich bewusst werden, dass sie als Lernende und nicht als Lehrende oder gar Befehlende hier sind. Ich selbst habe in kürzester Zeit viel von diesen […] Frauen gelernt. Sie haben eine wertvolle Kultur und Überlieferung, auch im Medizinwissen.»3
Ich bin tief beeindruckt vom Leben und Wirken dieser unerschrockenen Frau und denke, dass wir auch hier und heute von ihr lernen können: von ihrer Konsequenz, ihrem Mut, die Zeichen der Zeit zu erkennen und ihrer pazifistischen Grundhaltung in Anlehnung an ihre religiös-sozialistische Überzeugung der Utopie des «Reiches Gottes» – zwischen dem «noch nicht» und «schon jetzt» und jenseits eines Mainstreams, der sich einzig am Primat des Faktischen orientiert.
Vre Karrer: Frau bin ich. In: Emanzipation. Zeitschrift für kritische Frauen. Nr. 9, Nov. 1987.
Elisabeth Bäschlin (Hgrs.): Und grüsse euch
mit dem Lied des Regenvogels. Vre Karrer.
Briefe aus Somalia. Wettingen 2003.
Neue Wege-Gespräch mit Vre Karrer in:
Neue Wege 6/1993.
*1968, arbeitet als Pfarrerin. Seit ihrem Studium der Theologie, Ethnologie und Religionswissenschaften mit Schwerpunkt Islam beschäftigt sie sich mit kontextuellen Theologien aus Frauensicht, der Rolle von Frauen in religiösen und kulturellen Traditionen und mit Konzepten vom «guten Leben», die ein nachhaltiges, friedlicheres und gerechteres Zusammenleben von Menschen untereinander und der Mitwelt ermöglichen. Sie ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.