Zwei Wochen nach dem Massaker der Hamas in Israel sass der lutherische Theologe Mitri Raheb in seiner Stube im besetzten Bethlehem. Die plötzliche Nachricht, dass ein israelischer Luftangriff den Campus der griechisch-orthodoxen Kirche in der Altstadt von Gaza City getroffen habe, liess ihn einen Freund vor Ort anrufen. Dieser war sehr aufgewühlt. Im Hintergrund war am Telefon eine Person zu hören, die laut schrie und lamentierte. Unvermittelt gab der Freund das Telefon dieser Person weiter, einer katholischen Ordensschwester. Sie war in Panik geraten vor Angst, dass ein nächster Luftschlag dem eigenen Kirchenareal, wo sie sich befanden, gelten könnte. Er sei in diesem Moment sprachlos gewesen, schrieb Mitri Raheb später in einem Text, jedes Wort wäre fehl am Platz gewesen. Das Einzige, was ihm eingefallen sei: «Wir beten für euch alle.» Diese Worte würden eine Schwester beruhigen, die ihr Leben Christus und einem Leben im Gebet gewidmet hat. Aber sie schrie unter Tränen: «Wir brauchen keine Gebete!», und reichte das Handy an den Freund zurück.
Zuerst war Mitri Raheb konsterniert, weiss er doch aus eigener Erfahrung um den Trost und die Solidarität, wenn ihm Freund*innen aus aller Welt schreiben, dass sie an ihn denken und für die Menschen im Krieg beten. «Doch je mehr ich über die Verzweiflung der Ordensschwester nachdachte, desto mehr begann ich ihre Antwort zu verstehen. In dieser Situation von Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza braucht es mehr als nur Gebete; es braucht politische Aktionen, es braucht Menschen, die auf die Strasse gehen und ein Ende dieser Aggression fordern. Ohne einen sofortigen Waffenstillstand, ohne raschen Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten und ohne einen gerechten und dauerhaften Frieden würde weder sie noch die ganze Gesellschaft diesen Krieg überleben. Ihre Worte hatten etwas Prophetisches: ‹Hört auf, für Gaza zu beten und gleichzeitig zuzulassen, dass eure Regierung den Krieg sanktioniert. Hört auf zu denken, dass ihr den Menschen in Gaza einen Gefallen tut, wenn ihr betet, ohne euch vehement für Gerechtigkeit einzusetzen.›» Mitri Raheb erinnerte sich dabei an den biblischen Propheten Amos, wenn dieser geistlose religiöse Zeremonien kritisiert: «Ich hasse, ich verabscheue eure Feste, und eure Feiern kann ich nicht riechen! […] Und eure Speiseopfer – sie gefallen mir nicht! Weg von mir mit dem Lärm deiner Lieder! […] Möge das Recht heranrollen wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein Fluss, der nicht versiegt.»
Am 1. März, dem Weltgebetstag, beten viele Menschen in der Ökumene für Palästina. Der Tag bietet eine Gelegenheit, informiert zu beten, so, dass daraus auch ein Handeln folgt. Die Liturgie, die jeweils lange im Voraus festgelegt wird, stammt dieses Jahr von palästinensischen Christinnen. Sie, deren Schmerzen, Emotionen und Analysen derzeit aus dem öffentlichen Diskurs fast durchgängig herausgestrichen werden – aus systematisch erzeugter Angst, «Hamas-Freund*innen» und dem Antisemitismus eine Bühne zu geben. Palästinensische Menschen finden derzeit in unserer Gesellschaft, an Ausbildungsstätten, in der Kultur oder in den Medien, fast keinen Raum. Ihre pure Existenz – in Palästina, aber auch in der Diaspora – hat keinen Platz. Eine Ausnahme war der Artikel der palästinensischen Kulturwissenschaftlerin Sarah El-Bulbeisi in der NZZ vom 5.1.24, in dem sie schreibt: «Wiederkehrende Erfahrungen von Ausschluss, die Tabuisierung und Rechtfertigung von Gewalterfahrung sowie die Missachtung und das systematische Absprechen der eigenen Wahrnehmung wirken traumatisch. Dies erleben Palästinenser in Europa nicht nur individuell, sondern kollektiv. Das historische Trauma der ‹Nakba› von 1947/48 – der Vertreibung von 800 000 bis 900 000 Palästinenserinnen und Palästinensern aus ihrer Heimat – wird aus dem zentraleuropäischen kollektiven Gedächtnis und öffentlichen Diskurs ausgegrenzt. Dabei ist es unverbrüchlich mit der Shoah verbunden. Dennoch werden die bis heute andauernden Vertreibungen von Palästinensern und der Holocaust nicht als Teile desselben historischen Prozesses gedacht.»
Und nun veröffentlichte die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) vor dem Weltgebetstag eine Handreichung, in der sie empfiehlt, den Begriff «Nakba» in der Liturgie zu vermeiden, weil er eng verknüpft sei mit der generellen Infragestellung der Existenz des Staates Israel und sich gegen die jüdische Bevölkerung und das Judentum insgesamt richten könne. Ich bin sprachlos. Schweizer Kirchen möchten – in einer Demonstration von Überheblichkeit, Unwissen und falsch verstandener Solidarität mit Jüdinnen und Juden – bestimmen, wo die Grenzen des Sagbaren für palästinensische Christ*innen zu ziehen sind. Einer traumatisierten Gruppe von Menschen wird ihre eigene Geschichte abgesprochen. In der Zentrale wird formuliert, was jene an der Peripherie beten sollen und wie für sie gebetet werden soll: Beten zum Gott des Friedens «für ein Ende der israelischen Besatzung» möchte die EKS ebenfalls aus dem Text herausgestrichen haben.
In den USA beten seit Kriegsausbruch die «Rabbis for Ceasefire» – in den Synagogen ganz unterschiedlicher Ausrichtung, aber auch direkt vor der UNO oder vor dem Kongress: «Wir verwurzeln unsere Arbeit in b'tzelem elohim, dem Glauben, dass alle Menschen nach dem Abbild des Göttlichen geschaffen wurden. Wir glauben, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit haben und dass die Befreiung des einen Menschen nicht auf Kosten einer anderen Person gehen darf. Wir beten dafür, dass die Machthaber die Rufe der Menschenmassen hören, die mit einer Stimme sprechen: Waffenstillstand jetzt. Möge kein weiteres Leben verloren gehen.»
Beten, interreligiös beten für Gaza heisst zuhören – den Menschen in Not vor Ort, allen Menschen, und dazu zählen selbstverständlich die unterschiedlichen Stimmen jüdischer Israeli mit ihrem Schmerz, ihren Traumatisierungen, ihren Fragen. Beten für Gaza heisst auch schweigen, schreien, handeln.