In diese Lücke stiess im Sommer 2015 der Theatermacher und Autor Milo Rau mit seinem Team und realisierte «das ambitionierteste politische Theaterprojekt, das je auf die Bühne kam» (The Guardian). Er lud mitten im Kriegsgebiet Opfer, Milizionäre, RegierungsvertreterInnen, Oppositionelle, Schürfer, Unternehmer und VertreterInnen internationaler Organisationen zum Kongo Tribunal. Was gegen alle Logik verstiess und niemand für möglich hielt, gelang: Während drei Tagen wurden der vollbesetzte Theatersaal in der ostkongolesischen Metropole Bukavu und die sich direkt anschliessenden Berliner Hearings zum Ort des Ringens um «Wahrheit und Gerechtigkeit».
Mehr als hundert JournalistInnen aus der ganzen Welt berichteten über die Tribunale in Ostafrika und Europa, und die Wochenzeitung Die Zeit schrieb: «Wo die Politik versagt, hilft nur die Kunst.» Tatsächlich war es die eigentümliche Machtlosigkeit der Kunst, die den Raum öffnete für dieses Tribunal. Denn es verdankte seine grosse Ausstrahlung dem Umstand, dass in den drei Tagen im Theatersaal des Collège Alfajiri in Bukavu zentrale AkteurInnen der Justiz, des Staates, der Zivilgesellschaft, der Armee, der RebellInnen, der Unternehmen, der Schürferverbände, der UNO und der NGOs in einen offenen, nicht abgesprochenen Disput auf Basis lokalen und internationalen Rechts traten. Es entstand mitten im Konfliktgebiet eine soziale Plastik als Modell einer künftigen Rechtsprechung für die neuen Kriege in einer globalisierten Welt.
Als Ironie der Geschichte oder als glückliche Fügung ergab es sich, dass die Einheit von Handlung, Zeit und Ort, die die dramatische Grundregel das alten Theaters bildete, im Kongo Tribunal zu neuer Bedeutung kam. Denn nur in dramatischer Verdichtung kann man zeigen und begrifflich machen, was die Soziologin Saskia Sassen, Mitglied der Berliner Jury, als «multi sited global event» bezeichnet hat: ein globales Ereignis, das an mehreren Orten gleichzeitig stattfindet und daher normalerweise kaum einer Gesamtschau unterzogen werden kann. Denn die Kriege in der Demokratischen Republik Kongo sind geradezu exemplarisch für einen solchen «multi sited global event», da die Entscheidungen darüber, was vor Ort getan oder unterlassen wird, über die ganze Welt verstreut fallen.
Der Film gibt einen rasanten und auf verschiedenen Ebenen virtuos erzählten Überblick über dieses grossartige Projekt und gibt hoffentlich den Bemühungen des kongolesischen Untersuchungsleiters Sylvestre Bisimwa, nach dem Vorbild des Kongo Tribunals weitere lokale Tribunale folgen zu lassen, einen guten Rückenwind. Dass der Film in 100 Minuten der ganzen Komplexität der verhandelten Verbrechen nicht in allem gerecht werden kann, versteht sich von selbst. Dass er aber wertvolle Minuten für eine ganz billige Religionskritik verschwendet, in der Glaube und Passivität gleichgesetzt werden, ist in einem Land, in dem zum Beispiel die katholische Kirche oft eine aktive, deeskalierende Rolle einnimmt, etwas ärgerlich.