Ein Wort zur Zeit – nicht zu den Zeiten. Ich bin alt, und zu den Zeiten sollte man junge Leute befragen, die noch Erfahrungen machen, und nicht die Alten, die glauben, Alter sei Erfahrung genug, oder wie Goethe geschrieben hat: «Erfahrung ist immer eine Parodie auf die Idee.» Ich bin ein Erzähler. Erzählen ist umgehen mit Zeit, erzählen ist Zeit haben. Die Mutter, die abends am Bett des Kindes erzählt, hat Zeit, hat endlich Zeit, und eine Geschichte hat einen Anfang und ein Ende wie das Leben. Und wüssten wir alle nichts von unserem sicheren Ende, wir wären wohl nicht auf die Idee gekommen, die Zeit zu messen, und wir hätten wohl keinen Anlass, zum Erzählen.
Also eine Geschichte: Ein deutscher Freund erzählte mir, wie er einige Jahre Schafe hütete in der Provence, hunderte von Schafen. Er erzählte von Langeweile, lange Zeit, «längi Zyt», das wunderbare schweizerdeutsche Wort für Sehnsucht und Heimweh, und er erzählte von Einsamkeit und der Langsamkeit der Zeit. Und nur, wenn
die Herde auseinanderfalle, habe man zu tun, viel zu tun, weil beide Teile glaubten, sie seien die ganze Herde, selbst, wenn der eine Teil nur aus ein paar Schafen bestehe. Auch diese paar Schafe glaubten, sie seien die Herde. Ein solches Schaf möchte ich sein.
Ich bin im Pietismus aufgewachsen und habe mich dort eingeübt in die Minderheit. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Ich geniesse es, in der Minderheit zu sein.
Und mein kindliches Leben im Pietismus war frei gewählt und ohne Mithilfe meiner Eltern. Ich war lesesüchtig, buchstabensüchtig, und wir hatten zu Hause nur wenige Bücher, unter ihnen auch die Bibel. Und die Bibel habe ich gelesen, weil ich Buchstaben brauchte, nicht Inhalte, nur Buchstaben, Lesen an und für sich – lesend mit Zeit umgehen – und dabei wurde ich fromm, sass Predigern zu Füssen in der Zeltmission und war im Bibellesebund und im blauen Kreuz, und nur im Religionsunterricht des offiziellen Pfarrers führte ich mich schlecht auf, die einzige Betragensnote in meinen Zeugnissen. Wie auch immer, meine Buchstabensucht führte mich in die damals geliebte Minderheit.
Die semitischen Religionen sind lesende Religionen, buchstabierende und erzählende. Die alte Frau, die täglich in der Bibel liest, hat das schon ein Leben lang getan, sie muss sie auswendig kennen, trotzdem liest sie – lesen an und für sich, in sich gehen, bewusst mit Zeit umgehen. Der katholische Priester hat die Messe zu lesen, auch wenn er sie schon längst auswendig könnte. Ich bin überzeugt, dass die Buchstaben religiösen Ursprungs sind – «Am Anfang war das Wort» und «Es steht geschrieben». Ich verstehe das als Aufklärung. Die Reformatoren waren Aufklärer, der Reformator Jesus von Nazareth, Augustinus, der Reformator Martin Luther und viele andere. Sie kommen aus der Minderheit, leben erst mal trotzig in dieser Minderheit, aber sie haben eine Botschaft, und für diese Botschaft suchen sie eine Mehrheit. Das ist selbstverständlich und verständlich, aber hier beginnt der Teufelskreis, denn wer die Mehrheit sucht, wird immer wieder, ob ungewollt oder gewollt, zum Komplizen der Macht. Selbstverständlich möchte man mehr Leute in der Kirche, aber vor vollen Kirchen fürchte ich mich. Wenn der Glaube nichts anderes mehr ist als gutbürgerliches Wohlverhalten, dann beginne ich an ihm zu zweifeln. Dann möchte ich eines der sieben oder zwölf Schafe sein, die sich für die Herde halten.
Die Mutter, die ihrem Kind am Bett vorliest oder erzählt – das ist eine Art von Verschwörung: Wir zwei, nur wir zwei, wir sind jetzt die ganze Welt. Oder: Wir zwei, und nur wir zwei, Gott und ich, im Gebet. Und das Erzählen ist immer friedlich und es ist immer tröstlich.
Erzählen ist umgehen mit Zeit. Die semitischen Religionen, und nicht nur sie, sind erzählende Religionen. Erzählen kann man nicht der ganzen Welt, sondern nur uns. Könnte es sein – und dies nur als Frage – könnte es sein, dass die Religionen zu Behauptungen verkommen sind? Behaupten ist sozusagen der Feind des Erzählens: Das christliche Europa, das christliche Amerika, die christliche Schweiz, die islamische Welt, die christliche Partei, Behauptungen, Behauptungen. Die Macht erzählt nicht, sie behauptet. Es war einmal — so beginnen die Erzählungen. Der Anfang signalisiert bereits das Ende — es war einmal. Am Anfang war das Wort, und wenn es nicht gestorben ist, lebt es heute noch.
Diesen Text hat Peter Bichsel für die Ökumenische Herbsttagung «Ich aber sage Euch – Biblische Einsprüche in populistischen Zeiten» vom 18. November 2017 in Bern verfasst.
1935, ist einer der bekanntesten Schweizer Schriftsteller. Er lebt in Bellach bei Solothurn. Er bezeichnet sich als «Ragazianer», in Anlehnung an den Mitbegründer der Neuen Wege, Leonhard Ragaz.