Ein gutes Herz und guter Wille genügen nicht

Geneva Moser, Matthias Hui, 20. Januar 2024
Neue Wege 1.24

Clara Ragaz kann zu den Pionie­rinnen der modernen Sozialen Arbeit in der Schweiz gezählt werden. Zum konkreten Handeln im Arbeiter*innenquartier gehörten die Analyse und Bekämpfung der Ursachen von Armut. Ein Gespräch mit zwei auch kirchlich engagierten Fachpersonen über die Professionalisierung der Sozialen Arbeit seit den Zeiten von Clara Ragaz.

Wir führen unser Gespräch im Haus Garten­hof in Zürich-Aussersihl, in das Clara und Leonhard Ragaz vor gut hundert Jahren eingezogen sind. Hier haben sie gelebt, hier haben sie politische und soziale Arbeit geleistet, hier haben sie sich mit Arbeiterinnenbildung und mit Friedensaktivismus beschäftigt. Das Haus war das Zentrum ihres Lebens, ihres politischen Schaffens. Sie, Hannes Lindenmeyer, sind Stadtgeograf, Stadtaktivist und Quartier­historiker von Aussersihl. Was waren damals die sozialen Brennpunkte in der Stadt?

HL Die Leute waren sehr arm in dieser Zeit. Am Ende des Ersten Weltkriegs breitete sich eine totale Verarmung der Menschen aus und es herrschte eine für schweizerische Verhältnisse unglaubliche Hungersnot. Es gab Demonstrationen gegen den Hunger. Clara und Leonhard Ragaz zogen 1922 in das rote Arbeiter*innenquartier ein, als sich die Notlage ein wenig beruhigt hatte. Die politischen Debatten um die politische Linie – auch um die Zugehörigkeit zur Zweiten oder zur Dritten Sozialistischen Internationalen im Kontext der Sowjetunion – wurden hier heftig geführt. Die Netzwerke, aber auch die Auseinandersetzungen untereinander wurden hier im Quartier gerade durch verschiedene Frauen verkörpert. Neben Clara Ragaz waren zum Beispiel Dora Staudinger, Rosa Bloch, Paulette Brupbacher oder Mentona Moser wichtige Persönlichkeiten. Dora Staudinger war eine Aktivistin im Genossenschaftsbereich, sie war im Vorstand der Wohnbaugenossenschaft ABZ und kämpfte für die Stärkung der Position der Frauen in der Genossenschaft durch Leitungsfunktionen oder Frauenkommissionen. Rosa Bloch war eine politische Aktivistin, die sich der Dritten Internationale der Kommunist*innen anschloss. Sie organisierte 1917 die erste grosse Demonstration gegen Hunger vor dem Rathaus und war die erste Frau, die darauf im Ratssaal – auf Druck der Frauen auf der Strasse hin – eine Rede halten durfte. Sie lebte für den Umsturz, für die Revolution. Die Ärztin Paulette Brupbacher setzte sich insbesondere für die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen ein und kam deswegen auch einmal in Haft. Die Kommunistin Mentona Moser war eine Pionierin der präprofessionellen Ausbildung in der Sozialarbeit in der Sozialen Frauenschule Zürich, die sie mitbegründet hat. Das war die Frauenumgebung von Clara Ragaz.

Wie würden Sie die Rolle von Clara Ragaz in ihrem Umfeld in Aussersihl charakterisieren?

HL Ich habe den Eindruck, Clara Ragaz sei in ihrer Beziehung mit Leonhard Ragaz die treibende politische Kraft gewesen. Sie wollte handeln, etwas zustande bringen. Leonhard war eher der Theoretiker, der theologische Denker. Clara Ragaz war auf verschiedenen Ebenen politischer Arbeit aktiv. Hier im Haus Gartenhof war sie ganz nahe an der Basis. Sie versuchte die Idee einer Lebensgemeinschaft in Form eines Settlements, wie sie das in England kennenlernte, umzusetzen. Mit Unterstützung anderer Frauen ermöglichte sie hier Arbeiterfrauen, in einem Waschküchenprojekt gemeinsam zu waschen, und bildete Frauen in Fragen der Hygiene. Gleichzeitig war sie in der nationalen und internationalen Frauenfriedensbewegung eine wichtige Persönlichkeit.

Was sind heute, hundert Jahre später, die sozialen Brennpunkte in Zürich-­­­Aussersihl?

HL Aussersihl ist heute ein klassisches Beispiel der Gentrifizierung. Clara und Leonhard Ragaz hätten sich nicht vorstellen können, dass wir im Quartier jetzt viele Luxuswohnungen haben. Auf dem Markt werden Wohnungen für vier-, fünf- oder sechstausend Franken angeboten. Ich werde ab und zu zum Thema Quartiergeschichte in die Primarschule eingeladen. Dort sehe ich den grossen Umbruch deutlich. Während die Schule einmal Pionierin war in einem Projekt für die Qualität von Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationsgeschichte, ist sie jetzt aus diesem Projekt herausgefallen, weil sie nun zu wenig entsprechende Kinder hat. Die Arbeiter*innen­familien werden durch gut situierte Expats und andere Wohlhabende abgelöst. Die Orte, an denen Menschen weiterhin quasi normal und ohne Spekulationsdruck leben können, sind die Genossenschaften. Ich selber wohne in einer solchen Genossenschaft. Sie sind wie Inseln, die dem städtebaulichen Sturm standhalten. Schon vor hundert Jahren hatten die Genossenschaften eine ganz wichtige Funktion – damals aber zur Verbesserung der unglaublich ärmlichen Wohnverhältnisse der Arbeiter*innenfamilien.

Damian Brot, Sie sind reformierter Pfarrer und arbeiten im Begegnungsprojekt Open Place in Kreuzlingen. Auf welche sozialen Realitäten von Menschen treffen Sie?

DB Das Open Place, das wir vor bald zehn Jahren als soziale Anlaufstelle aufgebaut haben, wird von vielen armutsbetroffenen Menschen sehr rege besucht. Das zeigt uns die Armut, die es auch in der Schweiz gibt, auch wenn sie nicht mehr so sichtbar ist wie damals in Zürich. Aber die Leute sind da, es geht vielen nicht gut, sie brauchen auch materielle Unterstützung. Das Besondere an Kreuzlingen ist die Grenznähe. Es gibt hier viele Menschen aus Deutschland und anderen EU-Staaten, die mit dem Freizügigkeitsabkommen in die Schweiz kommen können, aber eben je nachdem nicht so stark sind und gut ausgebildet, um hier bestehen zu können. Wenn sie keine Arbeitnehmer sind, erhalten sie auch die Unterstützung nicht, die anderen zukommt. Sie müssen Angst haben, dass sie aus der Sozialhilfe rausfallen oder fallen tatsächlich raus, sie verlieren zum Teil ihre Aufenthaltsbewilligung. Kreuzlingen hat auch ein Bundesasylzentrum, das zu einem Ausreisezentrum geworden ist. Viele Menschen sind dann aber doch länger da und leben mit der Angst, abreisen zu müssen oder ausgewiesen zu werden. Sie suchen nach Beschäftigung, kommen zum Teil zu uns und arbeiten engagiert mit. Die meisten haben aber wenig Hoffnungsperspektiven.

Was ist das Spezifische am Ansatz der Sozialen Arbeit im Open Place?

DB Die Leute kommen, weil sie professionelle Hilfe erwarten, Sozialberatung, auch finanzielle Unterstützung, Begleitung auf dem Weg zum Sozialamt, wenn es um Formulare oder Rekurse geht. Das sind Dinge, die wir machen. Wir verstehen uns aber vor allem als Caring Community, als Gemeinschaft, in der Leute einander helfen. Die meisten, die kommen, wollen etwas zurückgeben: Ich habe im Open Place Hilfe erfahren, nun besuche ich eine andere Person von hier, der es nicht gut geht. Daraus entsteht ein Netzwerk. Die Leute werden oft relativ schnell von Hilfsempfänger*innen zu Mitarbeiter*innen. Das können auch besondere Gaben sein, jemand kann Musik machen und sich so ins Ganze einbringen. Das fördern wir gezielt.

Ihre Arbeit in Kreuzlingen wird stark durch freiwillige Mitarbeit getragen. Clara Ragaz setzte sich als Pionierin für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit ein. Sie unterrichtete an den Vorläuferinstitutionen der Schule für Soziale Arbeit in Zürich – sie hiessen zuerst «Einführung in weibliche Hilfstätigkeit für soziale Aufgaben», ab 1920 Soziale Frauenschule – mindestens achtzehn Jahre lang Fächer wie «Frauenfragen» und «Heimarbeit». Sie stand in engem Kontakt mit Jane Addams, der US­amerikanischen Friedenskämpferin, Feministin, Soziologin und Wegbereiterin des modernen Konzepts der professionellen Sozialen Arbeit. Kritisch gefragt: Wäre in den Augen von Clara Ragaz ein Projekt wie das Open Place gar ein Rückschritt, weg von einem professionellen Ansatz?

HL Jetzt sollten wir die historische Entwicklung des Berufs Soziale Arbeit anschauen. Die Sozialarbeit hat eine sehr düstere Vergangenheit. Wenn wir in das 19. Jahrhundert zurückdenken, geht es um Disziplinierung, um Kontrolle, um die Verwaltung der Armutsbevölkerung. Man muss sie irgendwie in Schach halten. Ausgangspunkt war ein repressives System, in dem keine Ausbildung in Sozialer Arbeit existierte – auch die Lehrerbildung wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt. Figuren wie Mentona Moser, Maria Fierz oder eben Clara Ragaz in Zürich brachten eine vollständige Transformation in diese Arbeit. Sie dachten nicht mehr von der Aufrechterhaltung des Systems aus, sondern setzten bei den Menschen an. Auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen bauten sie eine Kurs- und Bildungsarbeit auf, basierend auf dem weiblichen Einfühlungsvermögen im Sinne der sozialen «Mütterlichkeit», wie sie das genderstereotypisch nannten. Damit setzten sie allerdings einen starken Kontrapunkt zum damals männerdominierten Umgang mit der grassierenden Armut: Ärzte, Juristen oder Wärter führten in Behörden, Erziehungs- und Arbeitsanstalten die soziale Disziplinierung und Kontrolle aus. Frauen wie Clara Ragaz und ihre Mitstreiterinnen kamen da mit einem ganz neuen Konzept, als Wissenschaft wie die heutige Soziale Arbeit verstanden sie es noch nicht.

Wie sah das Konzept aus?

HL Sie versuchten Frauen zu ermutigen und zu befähigen, diese Arbeit anders aufzunehmen. Sie lernten von Ansätzen in den damaligen Brennpunkten der Armut in der westlichen Welt, in London oder Chicago. Sie verstanden Soziale Arbeit zuerst nicht als Berufsausbildung, sondern als Befähigung für die Praxis im Umgang mit der Armutsbevölkerung. Es handelte sich um eine Prä-Professionalisierung. Die eigentliche Professionalisierung erfolgte in den 1940er Jahren, also nach Clara Ragaz’ Lehrtätigkeit, zum Beispiel mit der Berufsausbildung an der Schule für Soziale Arbeit in Zürich. Heute – ich habe das selber erlebt als Dozent an einer Höheren Fachschule und an einer Fachhochschule in diesem Bereich – besteht ein Riesenfächer an spezialisierten Ausbildungsgängen. Die Professionalisierung mit differenzierten, einheitlich bundesweit geregelten Curricula für ganz unterschiedlich definierte Arbeitsfelder ist weit fortgeschritten. Dazu gehören auch arbeitsvertragliche Regelungen mit mittelständischer Entlöhnung. Zu Zeiten von Clara Ragaz erhielten die meisten in der sozialen Arbeit tätigen Frauen keinen festen Lohn. Aus der sozialen Arbeit entwickelte sich ein sehr umfassendes, allerdings auch bürokratisches System.

DB Das Open Place steht überhaupt nicht im Widerspruch zum Anspruch der Professionalität in der Sozialen Arbeit. Es ist im Gegenteil der Versuch, Professionalisierung in die soziale Arbeit einer Kirchgemeinde einzubringen. Traditionellerweise klingeln armutsbetroffene Leute im Pfarrhaus und bekommen vielleicht fünfzig Franken, ohne dass man eine professionelle Abklärung macht und den Leuten nachhaltig hilft. Professionalisierung im Open Place bedeutet, dass wir die Freiwilligen, die bei uns mitarbeiten, nach fachlichen Standards und mithilfe von Einsatzvereinbarungen begleiten. Wir sind darauf bedacht, dass wir niemanden ausnutzen. Die Mitarbeit bei uns soll Menschen eine Hilfestellung sein auf ihrem eigenen Weg. Ich setze mich beim Sozialamt dafür ein, dass diese Mitarbeit bei uns anerkannt wird und Türen öffnet, beispielsweise für einen sogenannten Integrationszuschlag oder in der Form einer Anrechnung als Praktikum.

Im Thurgau sehe ich allerdings, dass die Professionalisierung der Sozialen Arbeit nicht in allen Landgemeinden angekommen ist. Ich muss manchmal im Umgang mit bestimmten Menschen Professionalität einfordern, beispielsweise wenn ein KV-Angestellter, der nicht sozialarbeiterisch ausgebildet ist, existenzielle Abklärungen macht. Es gibt in der Sozialhilfe oft einen Geist der Abwehr. Man versucht, Menschen zuerst einmal abzuweisen oder auf bürokratische Wege zu verweisen. Das sind unprofessionelle Haltungen. Sie haben zum Ziel, die Sozialhilfekosten niedrig zu halten, und nicht, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.

Inwiefern bestehen Unterschiede zwischen staatlicher und freier, insbesondere kirchlicher, Sozialarbeit? Gibt es heute noch ein Potenzial für eigenständige kirchliche Soziale Arbeit? Clara und Leonhard Ragaz sind ja eher den Schritt aus der Institution Kirche hinaus gegangen.

DB Das Projekt Open Place wird von der Kirchgemeinde unterstützt. Wir sind aber auch auf Spenden angewiesen, denn es ist nicht so, dass die Gemeinde unsere Arbeit als ganz aus den Kirchensteuern zu finanzierenden Kernauftrag versteht. Um das Projekt müssen wir immer wieder kämpfen. Es gibt auch oft die Meinung, dass solche Arbeit eigentlich eine staatliche Aufgabe wäre und die Kirche andere Aufgaben hätte.

Die Kirche hat in meinen Augen einen anwaltschaftlichen Auftrag. Ich vertraue nicht darauf, dass das staatliche System der Sozialhilfe einfach funktioniert, es allen Menschen dabei gut geht und sich die Kirche zurücklehnen kann. Unsere anwaltschaftliche Aufgabe kann auch darin bestehen, Menschen zum Sozialamt zu begleiten, für sie zu kämpfen. Das schafft Konflikte. Das Sozialamt schätzt unsere Arbeit zwar und schickt auch Menschen zu uns. Aber die Ämter mögen es gar nicht, wenn man kritische Fragen stellt. Das mache ich. Ausserdem gibt es Dinge, die der Staat gar nicht leisten kann. Zur gesellschaftlichen Integration kann der Staat Anstösse liefern, aber die Arbeit muss persönlich und vor Ort passieren. Hier kann die Kirche viel tun. Auch politisch muss die Kirche ihre Stimme erheben. Im Kanton Thurgau ist die Gesetzgebung gerade im Sozialhilfebereich oft sehr restriktiv. Es gibt zum Beispiel immer noch diese schwarze Liste für säumige Krankenkassenprämienzahler*innen. Ich erlebe in meinem Alltag immer wieder, dass Menschen deswegen nicht einmal zum Arzt gehen können, auch wenn sie dringend psychotherapeutische Begleitung bräuchten. Wir müssen anwaltschaftlich dafür kämpfen, dass diese Menschen trotzdem zu medizinischer Behandlung kommen und von der Liste gestrichen werden.

HL Ich zitiere gerne den wunderbaren Artikel der Zürcher Kirchenordnung, der der Kirche das prophetische Wächteramt garantiert. Die Kirche sollte der Stachel im Fleisch sein und die Ungerechtigkeiten, die der Staat immer wieder neu produziert, aufdecken und anprangern. Ich denke gerade an die vielen Verschärfungen des Asylgesetzes mit unglaublichen Ungerechtigkeitspyramiden, die dabei entwickelt wurden. Dieser Einsatz ist natürlich politisch sehr umstritten. Wir erhielten eine Rüge des Kirchenrates, als wir bei einer Abstimmung zur Verschärfung des Asylgesetzes ein Transparent vom Kirchturm hängen liessen.

Die staatliche Sozialarbeiterin, der staatliche Sozialarbeiter hat ein doppeltes Mandat: das Mandat des Staates und dasjenige der Klientin, des Klienten. Die staatliche Soziale Arbeit muss die Gesetze durchsetzen. Durch dieses doppelte Mandat ist die Beratung und Unterstützung von Menschen immer auch mit einer Kontrollfunktion verbunden. Ich arbeitete in den 1980er Jahren beim Schweizerischen Arbeiter*innenhilfswerk für die Integration von Arbeitslosen durch Bildungs- und Beschäftigungsangebote und war dann auch als Fachperson an der Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes beteiligt. Ich habe mich vehement dagegen gewehrt, dass in den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren dieselbe Person kontrolliert und berät. Das muss unbedingt getrennt werden. Anwaltschaftliche Sozialarbeit verpflichtet sich der betroffenen Person gegenüber, gemeinsam mit ihr das Beste für ihre Lebenslage zu erarbeiten. Hier liegt nicht nur eine Chance der Kirche, das ist ihre Aufgabe.

Clara Ragaz formulierte 1920, was sie unter guter sozialer Arbeit verstand: «Die eine und die andere Klasse von Frauen wird aber, wenn sie mit Ernst an die Arbeit herantritt, sehr bald entdecken, dass zwar für die soziale Arbeit ein gutes Herz und ein guter Wille die unerlässlichen Grundbedingungen sind, dass aber mit ihnen allein noch nicht wirksame Arbeit geleistet wird. Es braucht auch für diese Arbeit gewisse technische Fertigkeiten, Kenntnisse der Methoden und der Grundlagen der verschiedenen Arbeitsgebiete, vor allem aber auch Erkenntnis ihrer Zusammen­hänge und Erkenntnis der tieferliegenden ­Ursachen unserer sozialen Schäden und Missstände …»

HL Auch Regina Kägi-Fuchsmann, die Gründerin des damaligen Schweizerischen Arbeiterhilfswerks, hat im selben Sinn den schönen Spruch geprägt: «Das gute Herz allein genügt nicht.» Es geht auch darum, dem System gegenüber kritisch Stellung zu beziehen. Deshalb gehört auch für Clara Ragaz ein politisches und rechtliches Verständnis zur Ausbildung. Ein Beispiel aus meiner Erfahrung: Ich war an einer Fachhochschule in der Ausbildung von Leiter*innen von sozialen Institutionen tätig. An einer Prüfung beschrieb eine Leiterin einer Asylunterkunft der Heilsarmee eine schwierige Entscheidungssituation. Sie erhielt einst von der Polizei die Mitteilung, dass am folgenden Morgen um vier Uhr eine Familie aus ihrem Heim ausgeschafft werden würde. Sie wusste um diesen umstrittenen Fall, auch darum, dass es eventuell Möglichkeiten gäbe, diese Ausschaffung noch zu verhindern. Sie war in einem Dilemma. Es gibt Verantwortliche, die in einer solchen Situation dafür sorgen würden, dass die betroffenen Personen sich zum genannten Zeitpunkt nicht in der Unterkunft aufhalten. Diese Frau aber zeigte sich loyal gegenüber der Institution, ihrem Arbeitgeber, der für den Staat vertraglich vereinbarte Leistungen erbrachte. An diesem Beispiel sprachen wir an der Prüfung über das Verständnis von Professionalität in der Sozialen Arbeit, über die Verpflichtung den betroffenen Menschen und die Verpflichtung dem Staat gegenüber.

DB Um Professionalität zu fördern, sollten wir in den Kirchgemeinden mehr Sozialarbeiter*innen anstellen. Kirchliche Sozialdiakon*innen sind auch von der Ausbildung her Pfarrpersonen oft ähnlich. Ich selber habe eine Hochschulausbildung in Recht für die Soziale Arbeit gemacht. Wenn wir im Open Place die Menschen wirklich unterstützen wollen, müssen wir mit dem juristischen Bereich vertraut sein, etwa mit dem Kinder- und Erwachsenenschutzrecht, mit Grundsätzen der Sozialhilfe und der Sozialversicherungen. Es geht um Grundrechte, wir müssen den Staat an seinen Grundauftrag erinnern. In den letzten Jahren fand ein Sozialabbau statt. Die Kirche hat dabei einen prophetischen Auftrag, wir müssen aber genau wissen, wie dieses System funktioniert, sonst können wir nicht mitreden.

Sie, Hannes Lindenmeyer, waren ­Präsident der Aussersihler Kirchgemeinde St. Jakob mit der Citykirche. ­Weshalb ­setzen Sie noch auf die Kirche?

HL Die Kirche hat Räume, sie hat professionelles, engagiertes Personal, sie kann Netzwerke schaffen. Es gibt beispielsweise über 150 Freiwillige im Solinetz für geflüchtete Menschen, das aus der Kirche heraus entstanden ist. Die meisten sind gar nicht mehr Mitglieder einer Kirche. Auch die Autonome Schule Zürich, eine eindrückliche Selbsthilfeorganisation von zugewanderten Menschen mit ganz unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, konnte dank Baubaracken im Areal des alten Güterbahnhofs starten, die unsere Kirchgemeinde damals mieten und der Schule zur Verfügung stellen konnte, weil die Schule selber Mühe hatte, Räume zu erhalten. Im Offenen St. Jakob in Zürich wurde über zwei Jahre mit der Denkmalpflege gestritten, damit die Kirchenbänke entfernt werden konnten. Dadurch entstand dieser offene, vielfältig genutzte öffentliche Raum, in dem sehr viele kulturelle, soziale, politische und religiöse Veranstaltungen stattfinden.

DB Ich sehe die Kirche ebenfalls als Ermöglicherin. So ist unser Open Place entstanden. Kreuzlingen ist eine mittelgrosse Kirchgemeinde mit fünf- bis sechstausend Mitgliedern. Wir haben neben der grossen Stadtkirche die Kirche Kurzrickenbach am Stadtrand. Irgendwann wurde klar, dass sich die Kirchgemeinde in Zukunft nicht mehr zwei Kirchen leisten können würde. Statt das Gebäude abzustossen, haben wir formuliert, dass dieser Raum für alle Ideen und Menschen offenstehen soll – ohne Ausgrenzungen. Schub entstand in dem Moment, als ein Lehrer zu uns kam, der sich mit dem Thema Food Waste beschäftigte. Er fragte uns, ob an diesem künftigen Begegnungsort eine Lebensmittelverteilung umgesetzt werden könnte. Dadurch kamen die Leute. Und die Leute brauchten mehr als Lebensmittel, nämlich Unterstützung auf verschiedenen Ebenen. Wir waren da. Daraus entstand unser Projekt. Mittlerweile sind wir so weit, dass wir die Innen­einrichtung des Kirchenraums verändern wollen. In der Coronazeit wichen wir mit unserem Café auf den Kirchenraum aus und merkten, wie ideal er ist. Jetzt machen wir mit fünfzehn Architekturstudierenden und einer Professorin aus Konstanz und unseren Mitarbeitenden ein partizipatives Seminar. Alle Beteiligten entwerfen gemeinsam Ideen, wie die Kirche zu einem wirklichen Begegnungsort werden kann.

Wie gelingt es an Ihren Orten, dass Sozialarbeit ihre Rolle so wahrnimmt, dass sie nicht paternalistisch und assistenzialistisch von oben herab Hilfe bringt, sondern Menschen zum eigenen Handeln befähigt?

DB Im Open Place haben wir beispielsweise eine Schlüsselbox installiert und geben den Code allen Engagierten. Manche sagen mir, ich sei unvorsichtig. Aber das Open Place gehört denjenigen Leuten, die mitmachen und verbindlich Aufgaben übernehmen, genauso wie mir. Wenn ich das Open Place irgendwo vorstellen sollte, frage ich oft andere Beteiligte, ob sie eine solche Präsentation übernehmen könnten. Oft ermöglicht auch Kunst gemeinsame Teilhabe. Wir machen partizipative Ausstellungen, beispielsweise eine zum Thema «arm und reich», zu der dreissig bis vierzig Menschen ein Bild beisteuerten oder an einer der zahlreichen Begleitveranstaltungen beteiligt waren. An einer anderen Ausstellung wurden Fotos von Menschen, die bei uns mitmachen, gezeigt, denen eine Einwegkamera zur Verfügung gestellt wurde. Sie hatten den Auftrag, Bilder aus ihrem Lebensalltag zu machen und mit Gedanken zu versehen. Das führte zu vielen Gesprächen.

HL Bei uns hat eine Gruppe Videoporträts von Menschen gemacht, die ihre Wohnung verlassen mussten, weil die Häuser abgerissen wurden. In der Nacht gab es dann organisierte Spaziergänge zu diesen Häusern, die bereits verlassen waren oder bald geräumt werden mussten, und die Videoporträts wurden auf die entsprechenden Hauswände projiziert. Es war sehr eindrücklich, so zu sehen, wer alles aus dem Quartier ausgeschlossen wird.

In einem Gedicht von Clara Ragaz heisst es zum Reich Gottes: «Verheissung bloss ist’s; doch sie schafft zum Weiterwandern Licht und Kraft.» Was gibt Ihnen «Licht und Kraft», sozialpolitisch so engagiert zu bleiben, dass die einzelnen Menschen in Not im Blick sind und doch gleichzeitig Energie bleibt, um die Verhältnisse zu verändern?

DB Es sind die Menschen selbst. Ich bekomme das Gefühl, dass es in dieser Arbeit um ganz wichtige Dinge geht. Als Pfarrer ist man ehrlicherweise oft nicht ganz sicher, ob das, was man verkündet, wirklich «Wahrheit» ist … In dieser Arbeit hingegen geht es um die wichtigen Dinge, auch um materielle, die die Menschen brauchen, um zu leben.

HL Ich bin in einem Pfarrhaus aufgewachsen und nach 1968 aus der Kirche ausgetreten. Erst 2009, als die Predigerkirche von Sans-Papiers besetzt wurde, sie dort rausgeschmissen worden sind, aber in der Kirche St. Jakob als Gäste aufgenommen wurden, hat mich das überzeugt, in eine solche Kirche wieder einzutreten. Das revolutionäre Potenzial der Reich-Gottes-Idee trägt mich im Alter mit. Ich denke nicht, dass nach dem Tod noch etwas kommt, aber gerade dies macht das Leben, die Arbeit an Projekten mit anderen Menschen zusammen, im Sinn und Geist des Reiches Gottes, so unendlich wertvoll.

Das dürfte wohl auch der Geist gewesen sein, der in diesem Haus vor hundert Jahren wirkte, als Clara Ragaz und andere hier ein- und ausgingen.●

Hannes Lindenmeyer, *1945, lebt, arbeitet und ­engagiert sich seit über vierzig Jahren im einstigen Armen- und Arbeiterquartier Zürich-Aussersihl als Mit­wirkender in sozialen, politischen und kulturellen Projekten.

Damian Brot, *1970, ist Pfarrer der Evangelischen Kirchgemeinde Kreuzlingen. Zusammen mit einem Team von angestellten und freiwilligen Mitarbeiter*innen leitet er das Open Place als soziale Anlaufstelle für die Region Kreuzlingen. An der ZHAW hat er den Studiengang MAS Recht für die Soziale ­Arbeit absolviert.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.