«Start-up und Familie? Alles unter einem Hut!», steht neben dem strahlenden Frauengesicht auf dem Werbeplakat, an dem ich vorbeieile. Die Frau wirbt lachend für Vitaminpräparate. Ich hetze gerade vom Büro zum Zug. Die Zeit ist knapp, meine Tochter wird wahrscheinlich enttäuscht sein, dass sie schon wieder das letzte Kind ist, das aus der Kita abgeholt wird. «Alles unter einem Hut»? Von wegen! Frauen in der Schweiz sind im Dauerstress, besonders Mütter mit Kindern.1 Vier von fünf Frauen hierzulande sind erwerbstätig. Die Erwerbsquote von Müttern ist hoch. Zwar arbeitet ein Grossteil Teilzeit, doch weil die Jahresarbeitszeit in der Schweiz mit 42 Stunden im europäischen Vergleich hoch ist, verbringen auch Frauen mit Teilzeitpensen viel Lebenszeit an ihren Erwerbsarbeitsplätzen. In der knapp bemessenen «Freizeit» betreuen sie dann Kinder und erledigen die Hausarbeit. Da sind Stress und Erschöpfung vorprogrammiert.
Die Überlastung der Frauen ist ein Markt geworden: Wer eine Frauenzeitschrift aufschlägt, findet farbenfrohe Inserate für Yoga-Auszeiten auf Mallorca, Empowerment-Seminare und eben: Vitaminpillen. Nach der Geburt meiner Tochter bekam ich noch im Spital einen Werbeflyer für einen dreitägigen Mami-Wellness-Aufenthalt in einem Viersternehotel, angeboten von einer Privatklinik-kette für entspannte 1000 Franken. Wer es sich leisten kann und will, entflieht dem anstrengenden Alltag zwischen Lohn- und Hausarbeit für kurze Zeit, um erholt wieder in das tägliche Hamsterrad – Kinder, Küche, Kapitalismus – einzusteigen. Wer gut verdient, kann Dauerstress nicht nur mit Wellness-Auszeiten entgegenwirken, sondern auch einen Teil der Arbeitslast an andere, schlechter verdienende und oft migrantische Frauen auslagern: Zum Znacht wird eine Pizza bestellt, das Kindermädchen oder die Tagesmutter schaut nach den Kindern, die Wohnung wird von einer Reinigungskraft sauber gehalten. Doch Vorwürfe an Frauen, die solche Dienstleistungen einkaufen, um ihren Alltag bewältigen zu können, sind fehl am Platz. Es mangelt schlicht an Alternativen.
Heterosexuelle Frauen meiner Generation, tief geprägt vom neoliberalen Zeitgeist der 1990er Jahre, haben gelernt: «Ich kann und soll Kinder und Karriere haben. Wenn ich das nicht schaffe, dann ist es meine Schuld, dann habe ich mich nicht genug angestrengt oder falsche Entscheidungen getroffen. Und ich bin entsprechend verantwortlich, eine Lösung zu finden.» Ein Wendepunkt für mein Denken und Leben war der erstaunte Ausruf der Philosophin Tove Soiland in einem Seminar zu feministischer Ökonomie, das ich mit Freundinnen vor fast zehn Jahren besuchte: «Ihr jungen Frauen habt nicht gelernt, in Strukturen zu denken! Ihr meint, dass ihr für alles selber verantwortlich seid!» Diese Erkenntnis, dass wir in sozialen und ökonomischen Strukturen leben, deren Zwänge und Widersprüche den Alltag durchdringen, war eine grosse Erleichterung für uns. Plötzlich sahen wir, dass wir nicht alleine sind, dass viele von uns gegen ähnliche Windmühlen kämpfen. Und dass die Antwort auf strukturelle Probleme nicht individuelle Lösungen sind, sondern gemeinsam erdachte und kollektiv geforderte politische Antworten. Eine feministische Politik statt Mama-Wellness und Vitaminpillen.
Am 14. Juni 2019 war es so weit: Hundertausende Frauen in der ganzen Schweiz forderten gemeinsam mehr Lohn, mehr Zeit und mehr Respekt. Beim Frauen*Streik unterbrachen und störten wir den gewohnten Lauf der Dinge, legten nach Möglichkeit für einen Tag die Lohn- und Hausarbeit nieder und stellten uns auf die Schultern unserer Vorkämpferinnen und -denkerinnen. Schon in der Vorbereitungszeit auf den 14. Juni stellten wir allerdings fest: Streiken macht ziemlich viel Arbeit. Zahlreiche Frauen investierten unzählige Stunden – unbezahlt natürlich. Nach dem Streik waren wir glücklich, aber auch sehr erschöpft. Wie andere auch fragte ich mich vor dem 14. Juni: Wie bestreikt frau eigentlich unbezahlte Sorgearbeit? In meinem Bürojob die Beantwortung von Mails vom Freitag auf den Montag zu verschieben war kein Problem. Aber das Baby einen Tag lang nicht wickeln, nicht füttern? Unmöglich. So machte der 14. Juni für uns Streikende greifbar, dass Arbeit eben nicht gleich Arbeit ist.
Lohnarbeit ist in kapitalistischen Marktgesellschaften eine schlichte Notwendigkeit, denn Miete und Lebensmittel müssen bezahlt werden. Doch Arbeit ist nicht nur eine Notwendigkeit für die meisten von uns, sie ist auch ein Fetisch, wie der Philosoph Patrick Spät in seinem Büchlein Und, was machst du so? Fröhliche Streitschrift gegen den Arbeitsfetisch feststellt: «Lohnarbeit, Gartenarbeit, Beziehungsarbeit, Blowjob – alles ist zur Arbeit geworden. Wir arbeiten an unserem Körper, an unserer Lebensweise und an unserem Liebesglück. Arbeit ist das Lebenselixier des modernen Menschen, ein Fetisch, mit dem wir uns lustvoll selber geisseln.»2 Einen Ursprung für diesen Fetisch findet er in der Bibel: «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen» (2 Thess, 3.10). Und: «Im Schweiss deines Angesichts sollst du dein Brot essen» (Gen, 3.19). Reformatorische Theologen interpretierten ökonomischen Erfolg schliesslich als Zeichen göttlicher Auserwähltheit und priesen Arbeit als Gottesdienst. Wie der Arbeitsethos der Protestant*innen und die kapitalistische Ideologie ineinandergriffen, zeichnete der Soziologe Max Weber in seiner vielzitierten Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus nach. Daraus hervorgegangen, so schlussfolgert Spät, ist das Mantra der Arbeitsgesellschaft: «Ich arbeite, also bin ich.»3
Dieses Mantra verdeckt nur dürftig, dass viele Menschen ihren Lebensunterhalt mit sinnfreien Tätigkeiten verdienen (müssen), mit Arbeit also, die keinen gesellschaftlichen Nutzen stiftet. Der 2020 verstorbene Ethnologe und Anarchist David Graeber nannte diese sinnlosen Tätigkeiten «Bullshit-Jobs»4. Ein Bullshit-Job lässt sich problemlos für einen Tag bestreiken, ohne dass Mitmenschen übermässig darunter leiden. Das Gegenteil eines Bullshit-Jobs ist Care-Arbeit.
Care-Arbeit umfasst alle Tätigkeiten, die der Reproduktion des Lebens dienen: pflegen, kochen, putzen, gebären. Care-Arbeit ist nie Bullshit-Job, sondern immer nützliche Arbeit. «Nützliche Arbeit», schrieben schon Karl Marx und Friedrich Engels, sei eine «von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln»5. Alle Menschen sind auf diese Arbeit angewiesen und können ohne sie nicht überleben.
In kapitalistischen Gesellschaften hat die Care-Arbeit spezifische Merkmale erhalten: Sie wird überwiegend von Frauen geleistet und nur schlecht oder gar nicht bezahlt. 5,6 Milliarden unbezahlte Arbeitsstunden leisten Frauen in der Schweiz jedes Jahr. Dies hat eine Frauengruppe um die feministische Ökonomin Mascha Madörin berechnet.6 Allein für die Betreuung von Kindern setzen Mütter, Grossmütter, Gotten, Mitbewohnerinnen und Nachbarinnen jährlich 1 Milliarde Stunden ein – gratis. Würde man den Frauen für diese geleisteten Stunden einen Lohn ausbezahlen, müssten dafür 248 Milliarden Franken aufgewendet werden. Mehr als alle Staatsausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden.
Doch statt einem angemessenen Lohn für diese lebenswichtige Arbeit droht den Frauen Armut. Vor allem im Alter: Frauen erhalten fast ein Drittel weniger Rente als Männer. Aus der beruflichen Vorsorge, der sogenannten zweiten Säule, beziehen Frauen sogar nur etwa halb so viel Geld wie Männer.7 Weil sie Teilzeit arbeiten, wenn sie Mütter werden ihre Berufstätigkeit unterbrechen und häufiger als Männer im niedrig entlohnten Care-Sektor tätig sind – in der Reinigung, der Pflege, der Betreuung, in Küchen und Supermärkten. Und weil sie in der Schweiz jedes Jahr mehr als 100 Milliarden weniger Einkommen haben als Männer, obwohl sie gleich viele Stunden arbeiten.8
Wie lässt sich Care-Arbeit also bestreiken, ohne dass lebenswichtige Bedürfnisse vernachlässigt werden? Eine lebensnahe Antwort darauf haben die Organisatorinnen der Berner Kinderwagendemo am 14. Juni gefunden. Mütter, Grossmütter und Kinderbetreuerinnen nahmen ihre Kinder, Grosskinder und Schützlinge einfach mit auf die Strasse. Sie forderten auf Transparenten bessere Löhne und Arbeitsbedingungen für Kita- und Hort-Mitarbeiter*innen, «Lohn für Hausarbeit» und «Schluss mit gratis».
Aus der Kinderwagen-Demo ging die «EKdM – Eidgenössische Kommission dini Mueter» hervor, die sich als Lobby für Mütter und Kinderbetreuerinnen einsetzt – und in deren Umfeld eine interessante These zur Care-Arbeit aus der Tabuzone geholt wird: Frauen leisten Care-Arbeit nicht nur, weil sie notwendig ist, sondern auch, weil sie Freude macht und Sinn stiftet. Die beiden EKdM-Aktivistinnen Anja Peter und Simona Isler schreiben: «Wir gebären Kinder, putzen Häuser, pflegen Alte und Kranke. (…) Wir Frauen sind Hausfrauen. Unsere Arbeit muss gemacht werden. Sie kann nicht ausgelagert, nicht digitalisiert und nicht rationalisiert werden. Wir sind Hausfrauen, weil wir müssen. Wir sind auch Hausfrauen, weil wir wollen. Denn es gibt nichts Schöneres als das Lachen der Kinder und die Gesichter der Grosseltern. Es ist schön, für andere da zu sein und sie zu lieben. Es tut gut, sinnvolle Arbeit zu leisten. Wir sorgen für andere, weil wir es wollen.»9
Wenn wir über Auswege aus dem Hamsterrad – Kinder, Küche, Kapitalismus – nachdenken, dann geht es um nichts weniger als um das gute Leben für alle. Für jene, die auf Sorge angewiesen sind und für jene, die sich kümmern. Ideen, wie wir zu einer Gesellschaft kommen, in dem nützliche Arbeit den gebührenden Raum bekommt und in dem jene, die sie leisten, dies gerne und unter guten Bedingungen tun können, gibt es genug: bessere Arbeitsbedingungen und Löhne im Care-Sektor, Anerkennung der unbezahlten Arbeit in allen Sozialversicherungen, eine radikale Verkürzung der Lohnarbeitszeit, ein bedingungsloses Grundeinkommen, Lohn für Hausarbeit, eine Ausweitung des Mutterschutzes und die Einführung einer Elternzeit – statt Vitaminpillen und Wellness-Aufenthalte.
Michael Hermann et al.: Zeit-Studie 2017. Wie Schweizerinnen und Schweizer mit der Zeit umgehen. Zürich 2017. Online: sotomo.ch/site/wp-content/uploads/2017/10/Zeitstudie-2017.pdf.
Patrick Spät: Und, was machst du so? Fröhliche Streitschrift gegen den Kapitalismus. Zürich 2014, S. 8.
Ebd., S. 9.
David Graeber: Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Stuttgart 2019.
Karl Marx, Friedrich Engels: Das Kapital. MEW, Band 23, S. 57.
feministische-fakultaet.org/makroskandal.
Amélie Pilgram, Kurt Seifert: Leben mit wenig Spielraum. Altersarmut in der Schweiz. Herausgegeben von Pro Senectute. Zürich 2009. Online: prosenectute.ch/dam/jcr:2641dfaa-b29d-4c8e-a3c4-498a40880361/Leben-mit-wenig-Spielraum.pdf.
feministische-fakultaet.org/makroskandal.
Simona Isler, Anja Peter: Wir Frauen sind Hausfrauen. In: Rita Jost, Heidi Kronenberg (Hrsg.): Gruss aus der Küche. Texte zum Frauenstimmrecht. Zürich 2020, S. 168–171, S. 168.
*1987, Co-Redaktionsleitung der Neuen Wege.