18. Dezember 2021

Wunder

«Das Böse ist der Krieg»

Redaktion Neue Wege, Friedrich Kramer, 25. September 2023
Neue Wege 10/11.23

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat einen Friedensbeauftragten. Er versteht sich als Pazifist, seine Friedensfahne hängt auch in der Kirche im Ge­genwind. Ein Gespräch mit Landes­bischof Friedrich Kramer aus Magdeburg.

Herr Kramer, haben Sie Angst vor der Zukunft?

Ich habe ein Grundvertrauen, dass wir in Gottes Hand sind. Aber ich mache mir Sorgen, wie die Welt sich verändert. Ich mache mir Sorgen über die Militarisierung, deren Zeug*innen wir sind, und die entsprechenden Ausgaben für Waffen statt für die grossen Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsfragen. Wir haben uns als Weltgemeinschaft Ziele gesetzt, die Nachhaltig­keitsziele der Agenda 2030, und ich sehe mit Sorge, dass sie nicht eingehalten werden. Das erste Ziel ist, den Hunger abzuschaffen. Aber wir sind immer weiter davon entfernt. Wenn man diese Ziele konzertiert angehen würde mit den Mitteln, die jetzt für Rüstung und Sicherheit militärischer Art eingesetzt werden, könnten sie erreicht werden.

Sie sind seit Anfang 2022 Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Als Sie gewählt wurden, befand sich der Friedensbeauftragte noch in der Mitte der Kirche. Fast alle standen hinter dem Leitbild des gerechten Friedens. Das hat sich aber mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine schlagartig verändert. Eine pazifistische Haltung und Friedensarbeit, wie sie der Friedensbeauftragte versteht, waren plötzlich nicht mehr mehrheitsfähig. Wie hat dieser Krieg, der jetzt seit mehr als anderthalb Jahren andauert, Ihr Verständnis der Aufgabe und Ihre Rolle verändert?

Erst einmal gab es eine grosse Krise, nachdem die geistliche Leitung, der Rat der EKD, Verständnis für die Unterstützung der Ukraine mit Waffen geäussert hat. Es wurde deutlich, dass eine Mehrheit des Rates fand, ihr Friedensbeauftragter müsste eigentlich in ihrem Sinn sprechen. Ich habe die Beauftragung für den Frieden ganz nach vorne gestellt: Wir als Kirche sind gerade in solchen Situationen aufgerufen, zu Waffenlosigkeit, zu Gewaltlosigkeit, zu Friedensinitiativen, zu diplomatischen Initiativen aufzurufen. In der EKD gerieten wir in eine schwierige Phase miteinander, weil mein Auftrag natürlich auch darin besteht, für die Gesamtkirche zu sprechen, was ich in diesem Fall nicht mehr getan habe. Es ist uns – der Ratsvorsitzenden, dem Rat und mir – aber gelungen, eine Vereinbarung dahingehend zu treffen, dass wir vielstimmig sprechen wollen. Wir halten es aus, wir halten es auch öffentlich aus, dass wir eine Differenz haben. Wir wollen einander gelten lassen und nicht sagen «Ein Christ, eine Christin kann sich nur so entscheiden», sondern wir wissen, dass es um eine schwierige Abwägung geht. Es ist unter uns niemand Bellizist geworden und steht begeistert für den Krieg. Die Verteidigung eines brutal überfallenen Landes ist plausibel und konform mit dem Völkerrecht. Es gibt viele Argumente für die militärische Verteidigung, die vielen Menschen einleuchten.

In zahllosen Körperschaften, Organisationen, Gruppen bis hin zu Freundeskreisen werden solche Auseinandersetzungen geführt. Oft ist das Auseinanderdriften in den Fragen rund um den Krieg schmerzlich. Wie haben Sie es trotz klaren Positionen geschafft, zu einem gemeinsamen Boden beizutragen?

Als Friedensbeauftragter des Rates der EKD fühle ich mich an das Leitbild des gerechten Friedens und auch an die früheren Beschlüsse der EKD-Synode dazu gebunden – es gibt bisher keine anderen Beschlüsse. Vor diesem Hintergrund halte ich es für richtig zu sagen, Deutschland sollte sich nicht an Waffenlieferungen beteiligen. Ich nehme dabei eine auf der deutschen Geschichte basierende Position ein. Damit sage ich nicht, dass sich die Ukraine nicht verteidigen dürfe oder sich das Land einfach ergeben müsse. Das Verteidigungsrecht der Ukraine ist unbestritten. Unsere Frage ist, wie wir uns als Deutschland in Europa verhalten. Deutsche Politik ist angesichts der zwei Weltkriege, die wir begonnen haben, gut beraten, besonders achtsam und vorsichtig zu sein und im Sinne von Neutralität in der Vermittlung und Friedensförderung aktiv zu werden. Ich habe aber gemerkt, dass das vielen nicht einleuchtet. Aber wenn ich erkläre, dass ich Pazifist bin und aus der DDR-Geschichte komme, kann Respekt entstehen. Der Respekt vor der anderen Meinung – in Verschiedenheit –, der wechselseitige Wille, nicht in eine Kriegshaltung mit entsprechender Kriegsrhetorik zu kommen, die den anderen sofort abwertet, das ist die Aufgabe. Daher war es mir auch so wichtig, in der von mir einberufenen Friedenswerkstatt alle massgeblichen Stakeholder der Evangelischen Friedensarbeit und friedensethischen Reflexion im Raum der EKD zu vereinen und in einen direkten Austausch zu bringen. Gemeinsam strengen wir nun ein umfassendes und partizipatives Konsultationsverfahren an mit dem Ziel, den gemeinsamen Boden in der Friedens­ethik neu zu vermessen und in einem neuen Grundlagenpapier festzuhalten. Insofern sind wir in der EKD in einem konstruktiven Verständigungsprozess unterwegs.

Wenn Sie als Friedensbeauftragter sprechen, in welchem Namen ergreifen Sie das Wort – im Namen der Kirche, im Namen der Positionierungen der Kirche, gar im Namen des Evangeliums, oder sprechen Sie einfach in Ihrem persönlichen Namen?

Ich verstehe mich als denjenigen, der beauftragt ist, die Stimme des Friedens und der Gewaltlosigkeit zu erheben. Dabei fühle ich mich an das Leitbild des gerechten Friedens der EKD gebunden. Es muss klar sein, dass man die Frage der rechtserhaltenden Gewalt, die im Leitbild als Massnahme nach strengen Kriterien erlaubt ist, unterschiedlich diskutieren kann. Wenn sich die Ukraine verteidigt, handelt es sich um rechtserhaltende Gewalt, und deshalb ist auch die Lieferung von Waffen legitim. Wenn ich in der Öffentlichkeit Stellung beziehe, versuche ich, die verschiedenen Positionen differenziert darzustellen, fordere aber auch, dass wir der Stimme für Gewaltlosigkeit von Jesus zuhören müssen, selbst wenn sie politisch nicht umsetzbar ist. Die Frage, ob jetzt Zeit ist für Feindesliebe, kann unterschiedlich beantwortet werden. Es gibt die Haltung: Du kannst im Moment, in dem du angegriffen wirst, nicht den Feind lieben, sondern musst erst einmal den Nächsten schützen. Klar ist auch: Wir können den brutal Überfallenen nicht von der Seitenlinie, von einem sicheren Ort aus empfehlen, sich weiter überfallen zu lassen. Das funktioniert nicht und ist zynisch. Aber wir auf der Seitenlinie können uns der Feindesliebe verpflichtet fühlen und sagen: Wir sind Jesu Nachfolger*innen. Lasst uns auf die Schrift hören, auch wenn sie keine eineindeutige Antwort gibt.

Und Ihre persönliche Haltung?

Auch sie spielt eine Rolle. Ich verstehe mich als leitenden Geistlichen, der immer auch für jene spricht, die sich als Pazifist*innen verstehen und in der Friedensbewegung unterwegs sind. Ich merke, dass es viele Menschen bestärkt und tröstet, wenn ich diese Position öffentlich einnehme in einer Situation, in der sie denken: Was ist eigentlich los mit der Kirche, jetzt sprechen alle nur noch für Waffen? Insofern ist meine Positionierung eine Mischung aus allem. Deutlich ist: Ich bin nicht die Stimme der evangelischen Kirche in Friedensfragen, sondern ich bin die Stimme des Frieden­sbeauftragten. Damit können viele leben. Es ist eine Minderheitenmeinung mit pazifistischem Hintergrund. Aber auch pazifistische Gruppen sind gespalten in der Frage, wie sie sich zum Krieg in der Ukraine verhalten sollen. Was bei unserer Position klar ist: Wir halten daran fest, dass zivile Konfliktbearbeitung in jedem Fall bessere Ergebnisse zeitigt als militärische Konfliktbearbeitung. Wir sind betroffen und traurig und verzweifelt angesichts der Tatsache, dass dieser Krieg jetzt Zehntausende von Menschenleben kostet. Wir betonen, dass dieser Krieg eine weltweite Dimension hat, gerade in Bezug auf den Hunger beziehungsweise die Verknappung von Nahrungsmitteln. Der Krieg ist nicht nur eine Frage der nationalen Verteidigung. Wir sind in einem Gesamtfeld unterwegs und sagen: Sofort Schluss, aufhören! Das ist ein Krieg, den Menschen auf der ganzen Welt mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Wir machen in den Kirchen die Erfahrung, dass kaum vertiefte Diskussionen statt­finden. Viele beziehen die plausible Position, dass sich die Ukraine verteidigen müsse. Andere Aspekte fallen oft unter den Tisch. Erleben Sie das anders?

Ich habe mit verschiedenen anderen leitenden Geistlichen in den Medien und auf Podien sehr differenzierte Diskussionen geführt. Dabei ist immer klar: Wir wollen gemeinsam, dass Frieden wird. Die Einschätzungen gehen an der Stelle auseinander, wo es um die militärische Unterstützung und um die Aufgabe der Kirche geht. Es gibt unterschiedliche Beurteilungen: In einer Debatte sagte ein Bischofs­kollege, man müsse den Bösen böse nennen. Ich antwortete: Das Böse ist der Krieg. Man darf den Feind nicht dämonisieren. Wahrscheinlich ist in dieser Debatte beides richtig und nichts schwarz-weiss. Ich bin als Landes­bischof unterwegs, halte Abendgebete und diskutiere dann mit den Menschen anderthalb oder zwei Stunden lang. Ich erfahre dort, dass auch jahrzehntelang in der Friedensarbeit Aktive verwirrt sind und nicht wissen, was sie sagen sollen. Kürzlich entgegnete mir eine Frau, wir könnten doch den Ukrainer*innen jetzt nicht sagen, dass sie sich nicht verteidigen sollten. Ich pflichtete ihr bei, indem ich ihr folgende gemeinsame Formel anbot: Wir können uns vielleicht darauf verständigen, dass Waffenlieferungen immer falsch sind. Aber es könnte in diesem konkreten Ausnahmefall vielleicht falscher sein, keine Waffen zu liefern. Darüber wollte sie nachdenken. Aber die Zerrissenheit auf die primitive Frage Ja oder Nein zu Waffen­lieferungen zu reduzieren, geht nicht. Wer dann gegen Waffenlieferungen ist, ist angeblich für die Totalaufgabe der Ukraine, und wer für Waffenlieferungen einsteht, ein Bellizist. Es bewegt sich alles dazwischen.

Gibt es keine Klarheit mehr?

Nein, denn die geopolitische Lage ist komplex und wird in unserer zunehmend multi­polaren Welt immer komplizierter. Ob Europa allmählich auf Kriegswirtschaft umstellt, ist perspektivisch eine zentrale Frage. Stecken wir einen noch viel grösseren Teil unserer Ressourcen in die Waffenproduktion, um der Ukraine zu helfen? Die USA und Grossbritannien waren von Anfang an die stärksten Unterstützer der Ukraine, sie haben sich 1994 im Budapester Memorandum auch dazu verpflichtet. Doch wenn die US-Republikaner die Wahlen gewinnen, könnte sich das ändern. Will dann Europa die jetzige Rolle der USA als Waffenlieferant einnehmen? Das halte ich für illusorisch. Daher müssen wir heute an Verhandlungs­lösungen arbeiten, damit das massenhafte, irrsinnige Töten, das dank der nun auch eingesetzten Streubomben ohnehin noch Jahrzehnte andauern wird, zu einem Ende kommt. Das bedeutet gerade nicht, gefühllos gegenüber den ukrainischen Opfern und der bedrohten Zivilbevölkerung zu sein. Als Christ*innen ist es unsere Aufgabe, die Kriegsopfer in den Blick zu nehmen – auf beiden Seiten. Wenn man sieht, wie fürchterlich die russischen Soldaten von ihrer Militärführung verheizt werden und wie hemmungslos zivile Opfer in Kauf genommen werden, ist jeder weitere Tag des Krieges ein Wahnsinn. Klar scheint zu sein, dass Initia­tiven zur Waffenruhe und zu Verhandlungen von aussen kommen müssen. Seit dem völkerrechtswidrigen Beschluss der russischen Duma vom Oktober 2023, vier Regionen der Ukraine zum eigenen Staatsgebiet zu erklären, ist Russland aus seiner Sicht nicht mehr in einem überfallenen Land, aus dem es sich auch wieder zurückziehen könnte. Damit sind beide Länder im vaterländischen Verteidigungs­modus, und keine Seite kann aufhören.

Ist die Kritik berechtigt, in Westeuropa seien sehr wenig Kenntnisse über die historische Entwicklung in Osteuropa sowie über die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte vorhanden?

Ich glaube, dass jetzt in der deutschen ­Politik eine stärkere Wahrnehmung Osteuropas stattgefunden hat. Man hat erstmals angefangen, auch den Ängsten der Menschen in Osteuropa ernsthaft zuzuhören, der Angst, die zum Beispiel das Baltikum und auch Polen vor Russland haben. Diese ist historisch begründet, weil die Menschen dort immer wieder die Erfahrung von bewaffneten Interventionen machen mussten. Das interessierte die deutsche Aussenpolitik bisher nur begrenzt.

Eine andere Frage: Wie steht es mit den direkten Beziehungen zu Kirchen in der Ukraine?

Wir haben Kontakte zu lutherischen, evangelischen Gemeinden. Sie sagen uns sehr klar, dass sie Waffen brauchen und unsere Diskussion überhaupt nicht verstehen. Letztens nahm ich in Wien an einer evangelischen Konferenz teil. Dort sagte mir ein lutherischer Pfarrer aus Odessa: «Bruder Kramer, ich bin sehr dankbar, dass auch dank deutscher Waffen die Luftverteidigung funktioniert und wir in Odessa halbwegs normal schlafen können. Und ich verstehe nicht, dass Sie so gegen Waffen sind, das hat aber vermutlich mit uns nichts zu tun, das sagen Sie wohl in die deutsche Diskussion hinein.» Die ukrainischen Christen stehen zu grossen Teilen hinter der bewaffneten Verteidigung der Ukraine. Aber interessant war: Er sagte auch, dass sie sich gegen Hass gegen die Russen äussern würden und damit teilweise angefeindet würden. Also sie nehmen ihre kirchliche Aufgabe sehr wohl wahr und kämpfen gegen Feindesbilder und Feindeshass. Dass die russisch-orthodoxe Kirche und gerade der russische Patriarch in puncto Ruf zum Frieden ein Totalausfall sind, ist offensichtlich. Der Patriarch äussert sich in einer Weise, die mit orthodoxer Theologie nur wenig zu tun hat, denn die orthodoxe Kirche ist in der Friedensethik eigentlich immer klar gewesen. Sie sprach vom weltlichen Arm Jesu Christi, das ist die staatliche Macht. Und dann gibt es den geistlichen Arm, die Kirche, die den Auftrag hat, im Sinne der Seligpreisungen gegen Gewalt zu agieren. Deswegen haben orthodoxe Kirchen früher Kriegshelden eine Zeit lang sogar vom Abendmahl ausgeschlossen, bis sie wieder feierlich aufgenommen wurden, nachdem sie Busse abgelegt hatten. Wir pflegen auch zu russischen Kirchen Beziehungen. Es gab aus Deutschland aufgrund der langjährigen Versöhnungsarbeit breite gesellschaftliche Kontakte. Jetzt funktionieren diese Projekte, Städtepartnerschaften, akademischen Austausche kaum noch. Das halte ich für sehr schwierig, weil man gerade in einer solchen Situation mit Menschen, die guten Willens und gesprächsfähig sind, reden muss. Wenn man sie isoliert, hilft das in einer so aufgeheizten Situation überhaupt nicht weiter.

Gibt es noch Friedensinitiativen vor Ort, mit denen Sie in Verbindung stehen?

Wir hatten auf dem Kirchentag im Juni dieses Jahres in Nürnberg ein sehr interessantes Frauenprojekt der Mobilen Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedens­förderung (OWEN) zu Gast. Das sind Frauen, die schon seit vielen Jahren Biografiearbeit leisten, zusammen mit Frauen aus dem ­Donbas, aus der übrigen Ukraine und aus Russland. Sie haben sich jetzt im Krieg in der Türkei getroffen. Es war, wie wir hörten, wahnsinnig schwierig, überhaupt wieder ins Gespräch zu kommen und an die alten persönlichen Kontakte und Gesprächsfäden anzuknüpfen. Weil der Krieg so unglaublich viel zerstört und ein Produzent vermeintlich simpler Wahrheiten ist, der es schwer macht, nach der Einteilung von allem und jedem in «falsch/richtig» und «Feind/Freund» wieder den normalen Blick der Menschlichkeit einzunehmen. Friedensarbeit, kaum sichtbar, kann hier Grossartiges leisten. Aber es gibt nur wenige Verbindungen nach Russland zu Friedensinitiativen. Gleichzeitig verstehe ich, wenn die Ukrainer*innen uns sagen, dass wir Waffen liefern müssten. Wenn man einbringt, dass Jesus Christus doch sagte, dass wir die Waffen weglegen sollten, kann man ins Gespräch kommen. Sie bekräftigen dann, dass das auch für sie gelte und sie sich für Versöhnung einsetzen möchten, aber jetzt sei die Zeit der Verteidigung, nicht die Zeit der Friedensgespräche.

Sie berichten von einer Fraueninitiative. Ist die Friedensfrage immer auch eine Geschlechterfrage?

Davon bin ich fest überzeugt. Natürlich haben wir Gleichberechtigung, es kämpfen auch Frauen an der Front, die Rollenverhältnisse sind nicht mehr starr wie einst. Aber wenn der Krieg in das Familienleben greift, wird die Plausibilität, sich fraglos militärisch zu verteidigen und die Söhne in den Krieg zu schicken, möglicherweise infrage gestellt. Frauen können als Witwen und als Mütter für Friedens­arbeit zentral sein – wobei oft auch sie den Krieg unterstützen und mittragen. Ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine war ich in einer kleinen Stadt in meiner Region an einem Gedenktag mit dabei. Der Grundtenor unter den anwesenden Ukrainerinnen war: Schmerz und Verzweiflung, nicht Heroismus. Die beiden Frauen, die den Anlass leiteten, liessen eine hohe Nachdenklichkeit und Leidensbereitschaft spüren. Es gab eine kurze Sequenz, wo ein Mann sagte, dass nichts vergeben werden könne. Da kam Hass zum Vorschein, ich bemerkte eine grosse Differenz zur Rede der Frauen. Wo Frauen sich organisieren, kann diese andere Rede eine Kraft entfalten. Zwar können Fraueninitiativen wie jene, die ich erwähnt habe, nicht von heute auf morgen von unten her den Frieden herstellen. Aber durch diese Arbeit bekommt das Erzählen vom Wahnsinn dieses Krieges eine viel grössere Plausibilität als der Diskurs, dass der Krieg nötig sei.

Wir machen auch die Erfahrung, dass neben der Waffenfrage andere Themen eher selten in die öffentliche Debatte einfliessen. Wie können die verschiedenen Dimensionen von Friedensarbeit stärker gewichtet werden?

Es gab ja auch in der Ukraine eindrucksvolle zivile Widerstandsformen, Menschen gingen auf die Strasse, als die Panzer kamen, Menschen riefen gemeinsam «ihr gehört nicht hierher», Strassenschilder wurden mit «Den Haag», als Hinweis auf den Ort des Internatio­nalen Strafgerichtshofs, überklebt. Dass dies reale Ansätze eines umfassenden Widerstandes sein könnten, leuchtet den meisten Menschen nicht ein. Was wäre passiert, wenn die Ukraine sich nicht militärisch, sondern zivil verteidigt hätte? Eine Ukrainerin aus den russisch besetzten Gebieten, die am Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen beteiligt war, hat uns auf dem Kirchentag berichtet, wie gerade in demokratischer Selbstorganisation ausgebildete und organisierte Menschen, auch die für die Ukraine engagierten kommunalen Bürgermeister oder Stadträte oder Dorfräte, von den Besatzungstruppen systematisch gejagt, verfolgt, verschleppt und teilweise auch umgebracht wurden. Wenn alles gewaltlos hingenommen worden wäre, hätte sich in ihren Augen dieser brutale Repressionsapparat überallhin ausgedehnt. Wir wissen das nicht.

Die Grundfrage, inwieweit soziale und zivile Verteidigung möglich sind, wenn man militärisch angegriffen wird, ist schwer zu beantworten. Das würde ein grosses gesellschaftliches Übungsfeld bedeuten, das müsste man trainieren. Die Bewegung Letzte Generation von Klimaaktivist*innen, die sich auf der Strasse festkleben, hält sich an das Prinzip der absoluten Gewaltlosigkeit. Es wird nie auf Schläge, Anschreien und anderes reagiert, die Beteiligten lassen sich alles gefallen. Dadurch sollen Menschen aufgerüttelt werden. Ob das funktioniert, ist ein andere Frage, aber das Vorgehen zeigt, dass es trainiert werden muss. Der Krieg ist eben anders strukturiert, da können Leute zwangsverpflichtet werden, Menschen wird eine Waffe in die Hand gedrückt – da kommen wir bezüglich Angst vor dem Sterben, Töten und Getötetwerden in ganz archa­ische Muster. Wir haben eine pazifistische Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Viele sagen zwar, sie funktioniere nicht, aber trotzdem ist klar, dass Krieg in unserer Welt verboten ist. Verteidigung ist so lange möglich und erlaubt, bis nach Artikel 51 der UNO-Charta der Sicherheitsrat geeignete Massnahmen zur Beendigung des Konflikts ergreift. Wir müssen mehr tun, um wieder zu zivilen Möglichkeiten zu kommen. In der UNO wird es um die Frage gehen müssen: Wie baut man Frieden auf gegenüber Staaten, die stark sind und sich mit dem Vetorecht über das Recht stellen können? Das Recht muss stärker werden als militärische Gewalt. Klar: Das ist ein ganz dickes Brett. Deutschland und auch die Schweiz und Österreich sollten bei der Beantwortung dieser Frage eine wichtige Rolle spielen.

Dass Sie das Thema des gewaltfreien Widerstands aufwerfen, hat auch mit Ihrer Biografie zu tun. Gewaltfreier Widerstand ist nicht nur theoretische Vision, sondern widerspiegelt ein Stück Erfahrung. Sie sind in der DDR aufgewachsen, die kirchliche Friedensbewegung spielte für Sie eine Rolle und eben auch der Widerstand, der 1989 zur friedlichen Revolution führte. Entspricht dieses Bild Ihrem eigenen Selbstverständnis oder ist das ein Klischee, das Ihnen angehängt wird?

Als wir in der friedlichen Revolution 1989 auf die Strasse gingen, wussten wir, dass brutale Polizeigewalt möglich werden könnte. In Berlin passierte das. Aber wir wussten auch, dass wir uns davon nicht abschrecken lassen würden, wir nahmen diese Reaktionen in Kauf, weil wir ein grösseres Ziel der Veränderung vor Augen hatten. Das ist auch in der Frage von Krieg und Frieden zentral: Was ist mein letztliches Ziel? Wenn ich auf Sieg und militärischen Gewinn setze, ist das nichts, was perspektivisch Frieden schaffen wird. Nur wenn man auch Versöhnung zum Ziel hat und überlegt, wie man dahin kommt, hat man eine Perspektive, die einen anders auf den Weg bringt. Wissenschaftliche Untersuchungen zu Konflikten in verschiedenen Regionen der Welt zeigen, dass zivile Konfliktbearbeitung nachhaltiger ist und bessere Ergebnisse bringt als militärische. Es ist immer besser, wenn ein Konflikt nicht an die Schwelle gerät, wo die Beteiligten für Gewalt optieren, weil der Dissens so riesig scheint. Zivile Konfliktbearbeitung und friedlicher, gewaltloser Widerstand haben für mich auch eine zentrale geistliche Dimension. Und auch eine demokratische: Demokratie ist per se kriegsfeindlich. In der Demokratie muss ich den anderen mit einer völlig unterschiedlichen und auch abwegigen Meinung aushalten und kann nicht zum Knüppel greifen. Aushalten, diskutieren und Mehrheitsverhältnisse akzeptieren ist in populistischen Zeiten nicht immer einfach und teilweise unangenehm. Krieg ist antidemokratisch – trotz des Widerspruchs, dass eine Demokratie sich vielleicht verteidigen muss. Aber wenn man das tut: Wie kommt man wieder aus dem Krieg heraus? Die lang anhaltenden Folgewirkungen von Krieg sind antidemokratisch. Ja, meine Haltung hat mit meinen biografischen Erfahrungen zu tun, ich habe erlebt, wie eine gewaltfreie grundlegende Veränderung der Gesellschaft möglich wurde.

Was kann Friedenstheologie in Friedensprozesse einbringen? Was haben wir als Christ*innen unserer Gesellschaft zu bieten?

Für mich ist die Friedensfrage eine zutiefst christologische Frage. Recht haben zu wollen und andere so lange zu bedrängen, bis sie der eigenen Idee zustimmen, ist eine der Grundsünden des Menschen. Christus ist für unsere Sünden gestorben und hat damit den Frieden geschaffen, der mir ermöglicht, dem anderen auch sein Recht zu lassen. Das ist nicht etwas, was ich vermag, sondern was mir von Gott angeboten und geschenkt wird. Müssen wir dem Hass folgen? Diese Fragen sind auch Fragen der geistlichen Reinheit und der Christusnachfolge. Gleichzeitig ist klar, es braucht Mitgefühl und Solidarität mit den Unterdrückten, Unterstützung der Ausgegrenzten. Gewalt gegen Minderheiten, Gewalt gegen Frauen muss Einhalt geboten werden. Gleichzeitig steht die Frage der Gerechtigkeit und des Rechtsbruchs vor Augen. Diese Frage, vielleicht Gewalt zu brauchen, um Gewalt einzudämmen und wieder Recht herzustellen, steht friedensethisch immer auch im Raum und ist nicht einfach zu beantworten. Und trotzdem ist für mich klar, dass der Weg, das Böse nicht mit Bösem zu beantworten, sondern auf Hass mit Liebe zu antworten, eine He­rausforderung der Christusnachfolge ist. Diesen Weg müssen wir als Kirche immer wieder in die Gesellschaft einbringen. Gegen den Stachel der Kriegsplausibilität und des Feindeshasses müssen wir sagen: Nein! Wir können als Christ*innen sagen, dass Christus gesiegt hat. Aber er hat keine Menschen umgebracht. Dieser Weg hat aber umgekehrt ihm den Tod gebracht. Diesem Christus nachzufolgen ist ein anderes Gehen durch die Zeit.

Verstehen Sie Ihre Aufgabe als kirchlicher Friedensbeauftragter auch im säkularen Raum? Versuchen Sie Positionen, die zwar in der christlichen Theologie gründen und auch institutionell in der Kirche verwurzelt sind, in die gesellschaftliche Debatte insgesamt einzubringen – etwa die Stimme des Pazifismus, der nicht nur auf religiöse Gruppen beschränkt ist?

Genau so sehe ich das. Der Krieg ist, wie ich schon sagte, antidemokratisch, er will keine Vielstimmigkeit. Das ist diese primitive Kriegslogik, die nur Gewinner oder Verlierer kennt, Feinde oder Freunde. Die Aufgabe der Kirche ist es, im Krieg immer zum Frieden zu rufen und gegen den Hass. Selbst wenn die Verteidigung legitim ist. Christus fordert uns auf, den Feinden eben nicht den Tod zu wünschen, sondern Wege zu suchen, mit dem anderen zu leben. Das heisst, dass wir dem Feind das Lebensrecht nicht absprechen. Genau dies tut aber der Krieg.

Sie sind Bischof in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Dort ist die AfD sehr stark. Was ist die Rolle der Kirche in einer Gesellschaft, die innergesellschaftlich auch von Hass und Nationalismus geprägt ist? Gibt es eine Verbindungslinie zwischen der Friedensaufgabe der Kirche und den gesellschaftspolitischen Umständen, die Sie vor Ort antreffen?

Das Verrückte ist, dass die AfD und die neue Rechte jetzt Gewaltlosigkeit nach vorne stellen und sich gegen den Krieg und gegen Waffenlieferungen positionieren, mir also in vielem zu entsprechen scheinen. Aber wir als Kirche sehen uns ganz klar in einem Widerspruch zur populistischen, menschenverachtenden und bei uns in Thüringen ja auch fast schon faschistischen Struktur der AfD. Manche Partei­mitglieder nehmen uns als Feind wahr. Mit den einzelnen Menschen müssen wir reden, das ist keine Frage, wir wollen versöhnend unterwegs sein. Aber gleichzeitig werden wir nichts unternehmen, um die AfD gesellschaftsfähig zu machen. Also werden wir mit den Spitzen der Partei nicht sprechen, solange sie ihre menschenverachtenden Grundpositionen etwa in Bezug auf Flüchtlingsfragen beibehalten. Es liegen Welten zwischen uns in der Einschätzung der Schöpfungsverantwortung, von Migration und Flucht, auch der Demokratie: Welche Gesellschaft wollen wir miteinander gestalten? Die AfD ist ein Problem, weil viele Menschen, die früher in der DDR im Widerstand waren, hier von ihr sehr konservative Positionen übernehmen. Es ist für uns oft bitter, dass Menschen, die in der DDR für Gerechtigkeit und Freiheit eingetreten sind, jetzt der AfD das Narrativ abkaufen, wir seien eine Kirche, die nur für Ökologie einstehe und wolle, dass immer mehr Flüchtlinge kämen. Daher ist es für uns wichtig, mit den Menschen ins Gespräch zu gehen und für Nächstenliebe und für Menschenfreundlichkeit zu werben.●

  • Redaktion Neue Wege
  • Friedrich Kramer,

    *1964, ist evangelischer Theologe und Pfarrer. Er ist seit 2019 Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland mit Sitz in Magdeburg und seit Januar 2022 zusätzlich Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

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