18. Dezember 2021

Wunder

Das Reich Gottes gegenwärtig machen

Franz Hinkelammert, Matthias Hui, Beat Dietschy, 4. August 2023
Neue Wege 5.21

Seit fast 40 Jahren ist der befreiungstheologisch ausgerichtete Ökonom Franz Hinkelammert Autor und Gesprächspartner in den Neuen Wegen. In zwei Neuerscheinungen bringt er, der soeben seinen 90. Geburtstag feiern konnte, sein Denken und seine Auseinandersetzung mit philosophischen und theologischen Traditionen auf den Punkt. Beat Dietschy und Matthias Hui haben ihn dazu befragt.

In den 1960er Jahren gingen Sie nach Chile. Nach dem Militärputsch konnten Sie sich in der deutschen Botschaft vor einer Ver­haftung retten und kamen wieder nach Deutschland. Aus welchem Grund sind Sie später doch nach Latein­amerika zurückgekehrt und haben Ihr Leben gros­s­teils auf diesem Kontinent zugebracht?

Nach zehn Jahren Chile kam ich ans Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Dort wurde ein Lehrstuhl frei, auf den ich mich bewarb. Er wurde mir zugesprochen, aber ich bekam Berufsverbot. Der Kultusminister in Berlin liess den Geheimdienst entscheiden. Wir sind doch eine Demokratie, in der freie Meinung erwünscht ist. Aber bei mir hatten sie festgestellt, dass meine Meinung nicht frei ist (lacht).

Ob bei dieser Entscheidung nicht doch der Heilige Geist mitgewirkt hat? Ob es nicht eine Fügung war, dass Sie anschliessend Ihren Weg in Lateinamerika fortgesetzt haben – wir wissen es nicht …

Das dachte ich auch. Aber Lateinamerika ohne Tritt in den Arsch wäre mir lieber gewesen.

Was war denn der Grund für Ihre erste Entscheidung für Lateinamerika in den 1960er Jahren?

Ich war für die Konrad-­Adenauer-Stiftung der CDU in Chile. Ich wurde unter Vertrag genommen, um auf einem Lehrstuhl für Wirtschaftssoziologie an der Universidad Católica zu arbeiten. Mir gefiel das gut. Nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 flog ich raus, weil nun auf dem Posten des Rektors ein Admiral der Kriegsmarine sass. Ich habe also meine Lektionen in Sachen Demokratie erhalten … (lacht).

Was genau gefiel Ihnen in Lateinamerika?

Ich hatte zuvor in Deutschland sowohl zur Katholischen Soziallehre als auch zur Sowjetunion, zum Sozialismus viel gearbeitet. Und jetzt war da mit Chile ein Land, das eine wirklich starke sozialistische Bewegung hatte. Ich kam im historischen Moment nach Chile, in dem die sozialistische Bewegung sich selbst redefinierte. Das war nicht der sowjetische Sozialismus. Das war der Sozialismus «mit dem Geruch von Empanadas und Rotwein». Ich stieg in diese Diskussionen ein, sie packten mich. Ich tat es mit einem bestimmten Gesichtspunkt, der mir immer deutlicher eine grosse Schwäche des sowjetischen Sozialismus zu zeigen schien und viel mit seinem späteren Scheitern zu tun hatte: Es ging um das Ziel sozialistischer Systeme, letztlich Markt und Staat abzuschaffen. Die Diskussion hatte nicht nur mit Chile zu tun. Linke Politik kann nicht den Markt abschaffen wollen, auch nicht den Staat. Es muss eine Politik der Interventionen in den Markt entwickelt werden. Das habe ich in allen Büchern vertreten bis heute. In Chile kam das gut an, später auch in Diskussionen mit Leuten aus Kuba.

Franz Hinkelammert, der Verteidiger des Markts?

Freiheit entsteht nicht etwa durch den Markt. Sondern wir brauchen sozialistisch einen Markt, dem gegenüber wir frei sind. Was wir hingegen haben, ist ein Markt, der alles diktiert. Unsere Frau Merkel, eine ansonsten ganz sympathische Frau, sagt, die Demokratie müsse marktkonform sein. Was wir in Costa Rica in unserer Arbeit entwickelt haben, läuft genau umgekehrt: Der Markt muss demokratiekonform sein. Damals gab es übrigens diese Linie auch in der CDU noch, verkörpert etwa durch Heiner Geissler, heute ist sie tot. Ich selber stand den Christdemokraten in den 1950er und 1960er Jahren eigentlich nahe.

Ihre Biografie und die Entwicklung Ihres Denkens hatten stets mit Karl Marx und Sozialismus zu tun. Haben Sie Ihre Argumentation zum Markt mit Marx oder gegen Marx entwickelt?

Das führe ich in meinem neuen Buch Die Dialektik und die Humanität der Praxis aus. Ich habe lange daran gearbeitet. Mir ging es darum, die philosophische Marx-Kritik, die in Deutschland vorgebracht wurde, kritisch zu befragen und anhand dieser Kritik Marx selber noch einmal kritisch zu betrachten. Ich wollte herausfinden, wie weit diese Leute eigentlich Marx begriffen hatten.

Wen haben Sie sich vorgenommen?

Ich beschäftige mich im Buch mit Max Weber, Friedrich Nietzsche, Karl Popper, Friedrich August von Hayek und Martin Heidegger. Ich tat das eigentlich mein ganzes Leben lang, nicht mit allen gleich intensiv; Hayek schien mir immer sehr wichtig.

Sie beginnen mit Max Weber.

Er sagt, die Wissenschaft könne nur Sachurteile fällen und keine Werte vertreten. Wenn er sich nur selber daran halten würde! Er formuliert gegenüber Marx kritisch, dass der Markt und das Geld nicht abgeschafft werden könnten. Ohne Geld breche das Chaos aus. Folglich müssten wir den Markt weiterführen. Aber wenn wir den Markt weiterführen, so sagt er, müssen wir auch die Marktethik weiterführen: Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht den anderen umbringen; du darfst ihm zwar sozusagen alles wegnehmen, aber nicht dadurch, dass du ihn umbringst. Diese Markt­ethik steht nun auch in unseren bürgerlichen Gesetzbüchern. Damit hat Max Weber mit Sachurteilen eine Ethik eingeführt, die gar nicht diskutierbar ist und in der er seine eigene Wissenschaftstheorie nicht ernst nimmt. Das ist die Ideologie der positivistischen Wissenschaft. Sie beschränkt sich auf das Positive, Tatsächliche, Wirkliche, beruft sich allein auf die Erfahrung und lehnt jegliche Metaphysik ab.

Was ergibt sich, wenn Sie mit Max Weber nochmals zu Marx zurückkehren?

Die Struktur des Arguments, dass das Chaos ausbricht und das Überleben der Menschheit gefährdet ist, wenn wir ein zentrales Element in der Ökonomie negieren, kommt von Marx; er sagte es aber nicht in Bezug auf das Geld, sondern auf die Arbeiterklasse. Wenn sie nicht leben kann, kann die ganze Gesellschaft nicht leben. Folglich müssen wir die Behandlung des Menschen unter den Menschen selbst ins Auge fassen. Marx spricht vom Gesetz der Verelendung, das zu überwinden ist. Er formuliert es in seinem kommunistischen Prinzip des Handelns so: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! Das ist die Nächstenliebe! Nächstenliebe heisst: Liebe den andern, denn du selbst bist es! Ich lebe, wenn du lebst. Das ist ein ganz anderer Akzent als bei den schiefen Übersetzungen wie «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst».

Sie zeigen, dass Marx den Kapitalismus nicht mit Werturteilen bekämpft, sondern von der Sachlogik her der Frage auf den Grund geht, weshalb der Kapitalismus gegenüber den Menschen, aber auch gegenüber der Natur zerstörerisch wird. Das ist kein Verdammungsurteil über den Kapitalismus, er kann nicht anders. Das Grossartige des Kapitalismus, die enorme Steigerung der Produktivkräfte, untergräbt und zerstört gleichzeitig die Quellen des Reichtums.

Genau dies ist der Grund, zum Kapitalismus eine Alternative zu suchen! Die Zerstörung der Natur und des Arbeiters, der Arbeiterin. Aber sie, Natur und Arbeiter*innen, darf man und kann man nicht abschaffen, weil man dann nicht mehr leben kann. Damit hat man eine Theorie der Werte, die Überlebenswerte sind. Das Zentrum aller Wertvorstellungen wird das Leben selbst. Was ist gut? Was ist böse? Gut ist das, womit alle leben können. Und schlecht ist, was den Selbstmord impliziert. Max Weber kann in seiner Logik dieses Argument eigentlich nicht ablehnen, aber er tut es.

Im Untertitel Ihres Buches1 formulieren Sie: Mit Marx gegen den kollektiven Selbstmord.

Marx sagt, wenn natürlich nicht in diesen Worten: Der Kapitalismus, so, wie er sich schrankenlos entwickelt, ist kollektiver Selbstmord. Die Formulierung von Marx, die Sie angesprochen haben, lautet: «Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.» Das ist die Formulierung des Selbstmords. Bei Max Weber kann man zeigen, wie er unfähig ist, dieses Problem zu sehen, ausser wenn es um das Geld geht.

Nach Max Weber bringen Sie Nietzsche ins Spiel, wie sieht das bei ihm aus?

Er würde sagen: Das, was uns kaputtmacht, ist die Utopie. Nietzsche ruft zum Aufstand gegen die Gleichheit aller Menschen auf. Folglich bräuchten wir eine Gesellschaft ohne Utopie. Aber eine Gesellschaft ohne Utopie, sage ich, ergibt genau die tödlichste Utopie, die man sich überhaupt vorstellen kann. Der Mensch ist utopisch. Wir denken die Welt immer so, dass wir von ihr ideale Vorstellungen entwickeln, von denen aus wir die Welt dann wieder interpretieren. An diesem Gedanken habe ich viel gearbeitet: Wir können die Welt, wenn wir sie ohne Utopie denken, nur als Welt denken, die Selbstmord begeht. Dante sagte zur Hölle: Wenn du hier eintrittst, lass alle Hoffnung fahren! Was Nietzsche verspricht, ist diese Hölle, die Welt ohne Utopie, als Freiheit. In diesem Zusammenhang finde ich Karl Popper am schlimmsten. Man hat ihn gefeiert, um Antikommunismus zu betreiben. Er sagte ja, der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeuge stets die Hölle. Die fundamentalistischen Wähler*innen von Reagan oder auch von Trump wollen das Paradies auf Erden, aber durch die Apokalypse, sogar durch den Atomkrieg, damit der liebe Gott dann endlich das Paradies schaffen kann. Wir können hier also nicht mit Popper sagen, die Rechte wolle keine Utopie mehr. Sie haben sie ja. Aber es ist die Utopie einer Gesellschaft ohne Utopie.

Was ist die Alternative?

Für Marx war die Alternative nicht eine bestimmte Institution, sondern eine Gesellschaft, die nicht Selbstmord begeht. Marx steckt drin in den ökologischen Diskussionen, im Club of Rome und so weiter. Wir zerstören unsere Welt, und die empirischen Wissenschaften – nicht die Theolog*innen, die können das auch, aber das überrascht niemanden –, sie erfinden neue, perfekte Welten. Ich bin Ökonom. Als Student musste ich die komplizierte Theorie des vollkommenen Wettbewerbs studieren. Genauso wie die Frage: Was ist eine perfekte Planung? In beiden Theorien wird gesagt: Die Welt kann nur perfekt sein, wenn die Teilnehmer*innen absolutes Wissen haben. Das sagen diese Leute im Ernst. Sie sagen, es gebe keine Metaphysik mehr, und betreiben Metaphysik.

Das entwickeln Sie im zweiten neuen Buch2: Wenn Gott Mensch wird, macht der Mensch die Moderne.

Da ist Gott Mensch geworden, und jetzt wird der Mensch Gott. Wer ist dieser Mensch dann? Der Marktteilnehmer, der allwissend ist (lacht). Dann schafft man die unsichtbare Hand von Adam Smith, die aus der vollkommenen Konkurrenz zwischen Marktteilnehmenden, die alle allwissend sind, etwas Perfektes macht. Und gegen diesen totalen Markt darf man nicht rebellieren. Das ist eine willkürliche Art, wissenschaftlich vorzugehen. Der menschliche Körper hat ja eine Tendenz zum Gleichgewicht. Aber wenn ich eine Blinddarmentzündung habe, dann erklären die Ärzt*innen mir nicht, dass der Körper eine Tendenz zum Gleichgewicht hat, sondern sie operieren (lacht). Wenn ich nicht interveniere, kann ich keine Medizin machen, kann ich keine Sozialwissenschaft machen, überhaupt keine empirische Wissenschaft.

Die Intervention, insbesondere in den Markt, ist ein zentraler Punkt in Ihrer Argumentation.

Wissen Sie, wer der Erste ist, der diese Herleitung des perfekten Zusammenlebens vom konkreten Intervenieren her gemacht hat? Es ist Paulus im Galaterbrief. Er geht vom Reich Gottes aus, er geht von Jesus aus, aber er konzipiert dieses Reich Gottes so, dass man sich ihm gegenüber verhalten kann. Er kommt so in Gal 3,28 zur hochinteressanten Definition: «Da gibt es keinen Juden noch Griechen, da gibt es keinen Sklaven noch Freien, da gibt es kein Männliches und Weibliches. Denn alle seid ihr in Messias Jesus.» Er leitet das perfekte menschliche Zusammenleben vom effektiven Zusammenleben ab. Dieses ist unverträglich mit Sklaverei, mit Ausbeutung. Und ohne Emanzipation der Frauen geht es nicht. Paulus konzipiert sie als Teil des funktionierenden Zusammenlebens. Die Unterschiede werden nicht zur Diskriminierung genutzt. Hier sind die Menschenrechte formuliert mithilfe der Philosophie. Aber es ist keine Seinsphilosophie, ihr Zentrum ist das Reich Gottes, wenn man so will: der himmlische Kern des Irdischen. Diese Perfektion ist in derselben Weise abgeleitet wie bei den Marx-­Kritikern die vollkommene Konkurrenz. Von diesen Perfektionen aus wird dann eine effektiv mögliche Politik analysiert.

Wie unterscheiden wir die Geister? Wie unterscheiden wir die Perfektion, die zum Leben führt, von jener, die zum Selbstmord führt?

Die Französische Revolution der Gleichheit – wer hat sie zum ersten Mal konzipiert? Paulus! Dann kommt die Russische Revolution mit ihrem Oberziel: kein Geld und kein Staat. Wo steht das denn bereits? In den letzten beiden Kapiteln der Apokalypse. Aus dem Denken der Perfektion kommt man zu den Vorstellungen einer Wirtschaft, die ohne Geld funktioniert, und zu einem Zusammenleben, das sich ohne institutionalisierte staatliche Herrschaft organisiert. Die Menschen regieren sich selbst. Die gegenwärtige Stagnation der Befreiungstheologie kommt auch daher, dass wir diese Geschichten nicht entwickeln. Daran versuche ich im zweiten Buch anzuknüpfen. Das Zentrum der Moderne ist, dass Gott Mensch geworden ist. Das sagen sogar die Atheist*innen, das impliziert doch genau auch Marx. Der Atheismus von Feuerbach und von Marx ist ein Atheismus, der formulieren könnte, dass Gott Mensch geworden ist. Gott hört auf, der Herr-Gott zu sein. So sieht dieser Atheismus völlig anders aus und kann in ein Verhältnis zu den Gottesvorstellungen der Bibel gesetzt werden. Das Denken von Paulus macht es uns möglich, unsere Welt von hier aus zu denken und zu gestalten.

Die ach so empirischen positi­vistischen Wissenschaften sind also metaphysischer, als wir Theolog*innen es sind, wenn wir uns unserer Tradition erinnern. Sie, Franz Hinkelammert, zeigen auf, wie man mit der Vorstellung der Perfektion umgehen kann gegenüber der Wirklichkeit, die wir antreffen.

Wenn ich die beiden Ebenen verwechsle und das Perfekte verwirklichen will, zerstöre ich es. Kant nennt das die transzendentale Illusion. Für mich gehört die Behauptung dazu, dass der Markt eine unsichtbare Hand kennt, die ihn perfekt reguliert. Ich transformiere den perfekten Zustand in einen verwirklichten Zustand und zerstöre so die Welt. Heute sind wir ja dabei; ich verweise nur auf die Klimakrise.

Wie verhält es sich mit der transzendentalen Illusion im Kommunismus?

Gleich! Die Illusion ist das Reich Gottes. Befreiungstheolog*innen sprachen vom «Aufbauen des Reiches Gottes». Aber das Reich Gottes kann man nicht aufbauen, da fällt man in die transzendentale Illusion. Der jetzige Papst wählt deshalb eine andere Form, darüber zu sprechen. Er sagt, das Reich Gottes müsse gegenwärtig gemacht werden.

Deswegen müssen wir aber die Utopien nicht aufgeben, sondern sie als Kriterium verwenden, das an jede Veränderung, an jede Kritik, etwa der Märkte, zu legen ist. Verstehen wir das richtig?

Genau. Das öffentliche Gesundheitssystem funktioniert eigentlich nach dem Prinzip «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen». Jeder zahlt, was er kann, jeder und jede bekommt, was sie brauchen. Soziale Institutionen haben häufig diesen Charakter. Sie funktionieren, weil sie nicht eine totale Gesamtlösung verfolgen, sondern sich an der Perfektion ausrichten. Nach Max Horkheimer ist diese Perfektion die vollkommene Gerechtigkeit. Adorno beantwortete die Frage nach dem Zugang zur Verwirklichung dieser vollkommenen Gerechtigkeit: durch die Auferstehung der Toten. So wie Paulus: Wir können damit anfangen, aber zu Ende führen können wir das nicht. Bei Gesamtlösungen kommt man in eine Linie der Entwicklung, wie sie die Sowjetunion durchgesetzt hat. Das sind transzendentale Illusionen, nicht unbedingt böse gedacht, aber sie funktionieren nicht.

Worin besteht der Unterschied zwischen rechten, neoliberalen Utopien und einer emanzipatorischen Vorstellung von Perfektion?

Zentral für die Klärung ist eine Demokratie, die sich an der Entwicklung der Menschenrechte ausrichtet, und nicht eine Demokratie, die sich am Willen des Kapitals orientiert. Die Demokratie wird durch die Herrschaft des Kapitals zerstört. Ich finde es beispielsweise grotesk, wie Bundeskanzler Schröder den Sozialstaat verkaufte und als Belohnung heute von Konzernen angestellt wird. Freiheit bedeutet heute, dem Markt gegenüber frei zu sein. Wir müssen in den Markt intervenieren können mit Kriterien, die demokratisch festgelegt werden und dabei von den Interessen jener ausgehen, die am wenigsten haben. Ich glaube, dass das möglich sein könnte: eine Welt, in der eine permanente Revolution von der Volkssouveränität her die Menschenrechte verteidigt und neue Menschenrechte erklärt. Grundlage dessen, was wir tun, darf allerdings kein Erfolgskalkül sein.

Sie sind soeben 90 geworden. Jenseits des Kalkulierens: Was wünschen Sie sich noch?

Ich wünsche mir, in Ruhe weiterleben zu können. Ich erhalte eine ziemlich niedrige Rente und habe gewisse Aktivitäten noch nötig. Ich möchte auch noch einiges weiterführen und fertigstellen von dem, was wir hier diskutieren. Ich bleibe Pessimist mit gewisser Hoffnung.●

  1. Franz J. Hinkel­ammert: Die Dialektik und der Humanismus der Praxis. Mit Marx gegen den neoliberalen kollektiven Selbstmord. Hamburg 2020.

  2. Franz J. Hinkelammert: Wenn Gott Mensch wird, macht der Mensch die Moderne. Zur Kritik der mythischen
    Vernunft in der Geschichte des Westens.
    Edition Exodus, Luzern 2021, 144 Seiten.

  • Franz Hinkelammert,

    *1931 in Emsdetten/Deutschland, ist Sozialphilosoph, Ökonom und Befreiungstheologe. Er ist Professor an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universidad Nacional in Heredia, Costa Rica. Er ist Autor vieler Werke zu Befreiungstheologie, Kapitalismuskritik und Globalisierung. Er verstarb am 16. Juli 2023 in Costa Rica.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.

  • Beat Dietschy,

    Dr. phil, *1950, ist Philosoph, Theologe und Publizist. Er promovierte über Ernst Bloch, arbeitete als Journalist in Laterinamerika und war Geschäftsführer der Hilfsorganisation Brot für alle. Er engagiert sich u.a. bei Comundo und ist Mitglied der Neue Wege-Redaktion.