18. Dezember 2021

Wunder

Kinderstubenmoral in Kriegszeiten

Annemarie Sancar, 21. Dezember 2023
Neue Wege 1.24

Clara Ragaz erlebte zwei Weltkriege. Tief erschüttert von diesen Erfahrungen betrieb sie unermüdlich feministische Friedenspolitik. Ihre Ansätze sind überraschend – und er­­schreckend – aktuell.

In diesem Essay suche ich nach Erklärungen für die vielen Parallelen, aber auch die Unterschiede, zwischen der feministischen Friedenspolitik von Clara Ragaz und der heutigen. Mich interessiert, wie Clara Ragaz über Krieg und Frieden, über die Rolle der Frauen in der Friedensbewegung und über die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für ein friedliches Zusammenleben nachgedacht hat und wie sie gehandelt hat, um ihren Zielen näherzukommen. Wo stehen wir heute? Was hat sich geändert? Was ist gleichgeblieben? Es sind aktuelle Fragen: Welche Hindernisse stellen sich Friedensaktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen, Politiker*innen in den Weg, die sich weltweit gegen Militarisierung, Aufrüstung und Gewalt und für ein gewaltfreies, friedliches Zusammenleben engagieren? Was haben wir von Clara Ragaz und ihresgleichen gelernt? Wo sollten wir in der feministischen Friedensarbeit heute Akzente setzen?

Befreiung aus der Abhängigkeit vom Mann

Clara Ragaz richtete ihren Blick auf die Rollen der Frauen in gesellschaftlichen Prozessen und auf ihre Einflussmöglichkeiten, um ihre Lebenssituation zu verbessern. Sie interessiert sich für die geschlechterspezifischen Denk- und Handlungsweisen und dafür, welchen Einfluss diese auf die Friedenspolitik haben könnten. Die Friedensaktivistin Clara Ragaz schreibt bereits 1915, dass die Unterschiede zwischen Frau und Mann ihr jeweiliges Verhalten in Krieg und Frieden teilweise erklären, distanziert sich dabei aber von einer eindeutig biologischen Begründung.1 Oberstes Gebot bleibt für Clara Ragaz die Menschlichkeit, ihr Glaube an das Gute ist in diesem Sinne unbestechlich. Die fehlenden politischen Rechte von Frauen sah Clara Ragaz als einen wichtigen Grund für die Ergebenheit der Frauen. Frauen akzeptierten zu unreflektiert eine gesellschaftliche Ordnung, in der der Mann vorgibt, was rechtens ist. Das müsse sich ändern, damit das Friedens­potenzial der Frauen wirkmächtig werde.

Doch reichen die politischen Rechte? Clara Ragaz nimmt eine klare Haltung zur Rolle der Ökonomie in der Friedenspolitik ein. Sie ist überzeugt, dass das herrschende Wirtschaftssystem die Voraussetzungen für die Versorgung aller mit den notwendigen Gütern und damit auch das friedliche Zusammenleben nicht erfüllen kann. Es müsse sich grundlegend ändern, damit Friede überhaupt möglich sei. Geschlechtergerechtigkeit ist eine der Grundvoraussetzungen für Frieden, wird aber unter kapitalistischen Bedingungen eher verhindert. Clara Ragaz bleibt nicht bei Allgemeinplätzen, sie benennt die problematischen Punkte und analysiert die Zusammenhänge: Ausgehend von den schlechten Arbeitslöhnen, die tief gehalten würden, um Gelüste nach mehr zu verhindern, kritisiert sie die unhinterfragte Steigerung der Militärausgaben. Die Militärausgaben seien für Massnahmen zur Vernichtung von Menschenleben und Gütern bestimmt, doch würden sie als Massnahmen zur Erhaltung der Existenz des Volkes ausgegeben.

Die Erfahrungen in verschiedenen Frauen­netzwerken in der Schweiz, insbesondere in der Stimmrechtsbewegung, und ihre internationalen Kontakte führten Clara Ragaz zum Frauenweltbund für den Frieden (englisch ICW), dem Vorläufer der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit IFFF (englisch WILPF)2. Bereits 1915 gründet sie mit der Chemikerin Gertrud Woker deren Schweizer Sektion. 1919 organisiert sie die internationale Frauenfriedenskonferenz in Zürich, an der sich Frauen zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg wieder treffen – über allem stehen die Grundwerte Gerechtigkeit und Freiheit. An diesem Kongress erhält die Organisation den bis heute gültigen Namen: Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit IFFF (englisch WILPF).3 Clara Ragaz pflegt weiterhin gute Beziehungen mit der Aktivistin Jane Addams aus den USA, die ihr auch die Idee der sogenannten Settlements näherbringt, Gemeinschaftszentren mit dem Ziel der Arbeiter*innen­bildung: Clara Ragaz führt dieses Konzept zur Entscheidung, in das Quartier Aussersihl umzuziehen, um emanzipatorische Aktivitäten in der Nähe der Arbeiter*innenklasse zu entwickeln.

Lokale Realitäten – internationale Verflechtungen

Ausgehend von der Settlement-Idee kaufen Clara Ragaz und ihr Mann, der Theologie­professor Leonhard Ragaz, im Jahr 1922 das Haus an der Gartenhofstrasse 7 in Aussersihl, einem typischen Arbeiter*innenquartier in Zürich, wo sich die Folgen der Industrialisierung besonders gut manifestieren.4 Das Wissen um die Lebensbedingungen der Arbeiter*innen beziehen sie nicht aus der Theorie, sondern aus der eigenen Lebenserfahrung … Sie erhoffen sich Einblicke in den Alltag der Menschen, um dann gezielt Unterstützung zu bieten. Die Vision war klar: Sie wollten die Lage der Arbeiter*innen in den Fabriken und zu Hause verbessern, um deren Position in der Öffentlichkeit und ihr Bewusstsein als Menschen mit Rechten zu stärken. Clara Ragaz nennt Rechtlosigkeit und den fehlenden Zugang zu Bildung als Gründe für das Elend. Sie fragt sich, ob sich die Situation verbessern würde und Frieden eher möglich wäre, wenn Frauen politische Rechte hätten. In Anbetracht der Komplexität der Situation, die sich in der Ausbeutung der Arbeiter*innen, der Konzentration von Reichtum, der Machtgier weniger Kapitalisten manifestiert, entscheidet sie sich für eine Kombination von Aktivitäten: soziales Engagement für die Arbeiterinnen (soziale Arbeit), das Stimmrecht für Frauen (politische Arbeit) und die internationale Friedensbewegung (Vernetzungsarbeit). Die heutige Welt basiere auf Macht und Gewalt; sie suche Sicherheit in den Rüstungen und nicht in einer Rechtsordnung. Clara Ragaz stellt die Frage, «was für eine Rolle wirtschaftliche Faktoren, das Verlangen nach Bodenschätzen, Rohstoffen, Zugang zu Wasserwegen in der Entfesselung von Kriegen spielen»5. Friedensarbeit muss, so ihre Überzeugung, die grösseren Zusammenhänge einbeziehen, um wirkungsvoll zu sein. Die Forderungen der Frauenfriedenskonferenz von 1919 sind noch heute hoch aktuell: universelle Abrüstung, Verbot chemischer Waffen, ein Völkerbund, um Nationalismus zu entkräften und dem Kriegshandwerk den Boden zu entziehen.

Wirtschaft und Friedensarbeit heute?

Gute Bildung für alle, ein Gemeinwesen, das sich um die Menschen kümmert, eine Wirtschaft für das Wohlergehen aller, umfassende Abrüstung und Entmilitarisierung sind für Clara Ragaz Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Frieden. Die Nähe zum Alltag der Menschen ebenso wie die internationale Vernetzung sind wichtige Ausgangspunkte ihres Handelns. Die konkreten Auswirkungen der wirtschaftlichen Ausbeutung werden bereits zu Claras Zeiten deutlich sichtbar. Gleichzeitig erlaubt ihre staatenübergreifende Vernetzung einen vertieften Einblick in die Kriegsökonomie, in die Aufrüstung und die beschleunigte Entwicklung von chemischen Waffen, in Kommunikations-, Überwachungs- und Kriegstechnologien. Ihr breites Netzwerk nutzte Clara Ragaz für die Mobilisierung der Frauen, sich politisch für Gleichberechtigung und Frieden zu engagieren, was nach dem Ersten Weltkrieg besonders dringlich erschien.

Wie steht es um heutige feministische Friedens­politiken? Wo schliessen sie an Clara Ragaz’ Engagement an? Die Verquickung von lokaler «Basisarbeit» mit entrechteten Menschen, insbesondere Frauen unterer Schichten, einerseits und den internationalen Friedens­bemühungen, die die grossen Zusammenhänge und strukturellen Gründe von Gewalt und Krieg deutlich machen, andererseits treibt die feministische Friedenspolitik bis heute um. Wir sind heute nicht viel weiter, trotz der erleichterten Kommunikation und dem globalisierten Wissen, zum Beispiel über die Entwicklungen der Rüstungsindustrie weltweit. Der Blick auf die aktuellen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen liefert bestimmt einige Erklärungen für die friedenspolitischen Misserfolge: Im Diskurs der Mächtigen werden Friede und Krieg zusammengezurrt – Krieg als Möglichkeit, Frieden zu schaffen. Das bedeutet auch legitimierte Aufrüstung, Zementierung der Rollenbilder oder Auftrieb der Waffenliebhaber*innen oder der Rüstungskapitalist*innen.

Dagegen wehrt sich die feministische Friedenspolitik vehement und plädiert für einen Frieden, der nur mit der umfassenden Sicherheit einer Care-Gesellschaft überhaupt möglich ist. Aus heutiger Sicht sind Clara Ragaz’ Überzeugung und ihr Wissen – gerade über das dialektische Verhältnis von wirtschaftlicher Entwicklung und Friedensarbeit – besonders aufschlussreich. Noch nie wurde so viel Geld in die Aufrüstung gesteckt wie in den letzten Jahren. Wie im Jahrbuch 2023 des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) steht, stiegen die weltweiten Militärausgaben das achte Jahr in Folge und erreichten 2022 schätzungsweise 2240 Milliarden Dollar, den höchsten Stand, der jemals von SIPRI aufgezeichnet wurde. Im Schnitt sind 6,2 Prozent der Budgets aller Regierungen Militärausgaben.

Warum ist es so schwierig, Forderungen nach Abrüstung und nach Sicherheit ohne Waffengewalt umzusetzen? Auch in der heutigen Friedensbewegung wird die globalisierte Wirtschaft zu wenig mitgedacht und die feministische Debatte tut sich schwer, die ökonomischen Machtverhältnisse und die Friedens­politik systematisch zusammenzudenken. Die antimilitaristische Organisation GSoA (Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee) versucht seit vielen Jahren, die Profitmaximierung der Rüstungsindustrie stärker in den Blick zu rücken. Die Diskussionsstränge bleiben dennoch weitgehend getrennt: Auf der einen Seite geben die Militärexpert*innen den Ton an, was Sicherheit bedeute. Gegen die militärische Sicherheit, die Schutz vor den von aussen kommenden Feinden gewähren und somit die nationale Sicherheit garantieren soll, stehen die Menschenrechte und somit eine Sozialpolitik, die Sicherheit in der Grundversorgung für alle sieht, einem Ort der hohen Kosten und niedrigen Gewinne. Es wird lieber in gewinnbringende Bereiche investiert als in die Care-Wirtschaft, die kostenmässig immer teurer geworden ist, ohne jedoch marktrelevanten Gewinn zu erzeugen.6 Heute stellen wir also fest, dass Militarisierung und Aufrüstung deutlich mehr Profit versprechen als die kostspielige Politik für soziales Wohlergehen aller. Die Friedenspolitik hat ihren Weg aus diesem Dilemma bis heute nicht gefunden, und es stellt sich die Frage, wer denn überhaupt an Frieden im Sinne von Clara Ragaz interessiert ist.

Feministische Friedenspolitik heisst Care

Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten haben sich seit den Wirkungsjahren von Clara Ragaz sicher verändert. Der Markt ist globalisierter und schneller, nicht nur der Privatsektor, auch die öffentlichen Dienste sind dereguliert. ­Rendite, Profitmaximierung und Wachstum sind wegleitend. Mit einem globalisierten Arbeitsmarkt lässt sich zugunsten der Wirtschaft vieles ausgleichen, er beflügelt aber die rassistische und nationalistische Abschottungspolitik. Gewinner sind die Rüstungs- und Überwachungsindustrie sowie der Rohstoffmarkt. Sicherheit scheint mit Waffen möglich. Die soziale Sicherheit, die Sicherheit im Alltag, ist nachgeordnet. Clara Ragaz sieht es genau umgekehrt: Wenn die Sicherheit aller gewährleistet ist, braucht es keinen Krieg, und Abrüstung wäre endlich möglich. Heute formulieren es feministische Friedensaktivistinnen so: «Care-­Arbeit ist eine der elementarsten Formen gesellschaftlicher Teilhabe. Sie wird meistens von Frauen geleistet, die damit das Gefüge unserer Gesellschaft zusammenhalten und täglich zu unserem Sicherheitsempfinden beitragen. Für eine geschlechtergerechte Form des Friedens müssen wir Care-Arbeit als Friedensförderung anerkennen und gerechter verteilen. Je besser die Bedingungen, unter denen sie erbracht wird, desto eher durchbrechen wir Gewaltstrukturen.»7

Care-Arbeit als Begriff existiert zu Zeiten von Clara Ragaz nicht, mit ihrem Begriff der «Kinderstube» kommt sie ihm nahe. Sie schreibt in ihrem Vortrag Die Frau und der Friede: «Entweder gilt das, was wir die Kinder lehren sollen, Güte, Freundlichkeit, Liebe, Vertrauen, Grossmut, Treue, Wahrhaftigkeit, auch im späteren Leben und Zusammenleben, oder sonst hat es auch für die Kinderstube nicht viel Wert; denn der Kinderstube sind die Kinder bald entwachsen, und was sollen sie dann mit diesen Kinderstubenidealen anfangen, die ihnen im Lebenskampf ja nur hinderlich sind?» Wie sie erkannt hatte, sind gute Bedingungen für Care-Arbeit – die personenbezogene Sorgearbeit, die meistens zu Hause von Frauen unbezahlt geleistet wird – ein zentraler Pfeiler der Friedenspolitik. Nur wenn Sorgearbeit unter guten Bedingungen erfolgen kann und den Frauen nicht alle Zeit stiehlt, ist Friede möglich. Das gilt heute immer noch. «Die Pflege- und Betreuungsarbeit bietet also täglich den sozialen Kitt, der Gesellschaften zusammenhält. Als solche ist Care-Arbeit unersetzliche Friedensarbeit. Trotzdem sind ein Grossteil der Care-Arbeiter*innen sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheit ausgesetzt und werden in Beratungs- und Entscheidungsbereichen oft systematisch ignoriert. Solange die Care-Arbeit grösstenteils an Frauen ausgelagert wird, bleibt jedes Engagement zur Partizipation von Frauen ein Lippenbekenntnis.»8

Care-Arbeit als Nebenschauplatz

Feministische Friedenspolitik bezieht sich heute auf die im Jahr 2000 verabschiedete Resolution des UNO-Sicherheitsrates UNSCR 1325. Hier wird festgehalten, dass Frieden nur möglich ist, wenn die Frauen in politischen Entscheidungsprozessen gleichwertig beteiligt sind. Die Schweiz verfolgt dieses Ziel unermüdlich, allerdings eher auf Nebenschauplätzen, wo zwar kleine Entscheide über einzelne Projekte der Gewaltprävention oder zur Förderung der Gleichstellung gefällt und Not­lagen von Frauen gelindert werden. Bei grossen Budgete­ntscheiden werden Care-Bedürfnisse indes kaum berücksichtigt, die Bedingungen der alltäglichen Sorgearbeit kaum verbessert und die Last der Frauen im Alltag kaum institutionell aufgefangen – trotz Vorstössen für eine neue, gendergerechte Politik der Nachkriegs- und Wiederaufbauwirtschaft.

Ist der Graben zwischen der marktbezogenen Wirtschaft und den nicht kommodifizierten Tätigkeiten im Sorgebereich gewachsen? Clara Ragaz konnte kaum voraussehen, wie die postfordistische Deregulierung und Flexi­bilisierung die Care-Arbeit aus dem Blick rückt, indem das, was nicht monetarisiert werden kann, dem privaten Haushalt, also meist den Frauen, überlassen wird. Für Clara Ragaz stand aber schon damals fest: Nur wenn sich die Bedingungen für die Sorgetätigkeiten verbessern, wenn Frauen mehr Zeit für Bildung und Teilnahme am öffentlichen Leben haben, ändert sich etwas zum Guten: «Ich denke heute an das ungeheure soziale Unrecht der Missachtung der Frau, das sich in hundertfacher Gestalt und Form äusserte, in der gewissenlosen Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, in der Minderbewertung ihrer Arbeitsleistung, in der Vorenthaltung öffentlicher Rechte.»9 Was ist neu in der aktuellen Debatte?, müssen wir uns kritisch fragen. Schon Clara Ragaz wusste, dass Krieg Vernichtung bedeutet und jede Waffe tödlich ist, dass Waffengewalt die patriarchalen Werte und Rollenbilder verstärkt. Die feministische Friedenspolitik vertritt diese Positionen fast einstimmig. Wie schon damals, als die Sozialdemokratie in Zeiten des Zweiten Weltkriegs von der Kriegseuphorie angesteckt ihre Position betreffend Waffen änderte – was Clara Ragaz zum Austritt aus der Partei bewog –, stellt auch heute die Frage der Waffen­geschäfte die feministische Bewegung vor eine Zerreissprobe. Einigkeit besteht darin, dass Friedenspolitik ohne Reflexion der makroökonomischen Prozesse erfolglos bleibt und Care-Wirtschaft die ihrer gesellschaftlichen Leistung entsprechende Unterstützung bekommen muss. Darüber zerbrechen sich die feministischen Friedensaktivist*innen heute die Köpfe: Es braucht vielfältige Vernetzung, und es braucht unterschiedliche Ansätze und Perspektiven, um Friedensprozesse nachhaltig beeinflussen zu können.

Heute ist die Datenlage besser, die Kommunikation einfacher. Vielleicht geht es heute mehr als früher um die Definitionsmacht von Sicherheit. Sie liegt heute bei der militärischen Version, was mitunter mit der Tatsache zusammenhängt, dass Kriegsmaterialgeschäfte zu den lukrativsten Wirtschaftszweigen gehören. Die Narrative der Notwendigkeit, Armeebudgets aufzustocken, flammen vor allem in Zeiten von Krieg auf, das zeigt sich in den Texten von Clara Ragaz ebenso wie heute: Bürger*innen sollen im Glauben an eine absolute nationale Sicherheit gelassen werden. Eine feministische Friedensaktivistin aus Belarus sagte dazu: «Je mehr Waffen geliefert werden, desto prekärer unsere Sicherheit.»10 Die Definitionsmacht von Sicherheit ist umkämpft. In Clara Ragaz’ Worten: «Wir müssen kämpfen, und zwar einen bitteren, schweren, harten Kampf kämpfen. Keinen Kampf mit Kanone und Maschinengewehr, Kriegsschiff und Militärluftschiff, aber einen Kampf gegen Kanone und Maschinengewehr, Kriegsschiff und Militärluftschiff. Und ich glaube, dass der noch schwerer sein wird; denn das sind Götter geworden, denen die Völker ihre Geschicke anvertraut haben, und sie angreifen, heisst heilige Güter angreifen.»11

  1. Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6.1915, S. 240–254. Lea Burger: Clara Ragaz: «Ist die Frau Pazifistin»? In: Neue Wege 7/8.2021, S. 24–27.

  2. Die Initiative dazu ging von führenden Persönlichkeiten der Frauenstimmrechtsbewegung aus. Die WILPF ist als Teil der weiblichen Emanzipations­bewegungen des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Es ging also nie nur um Frieden, sondern von Anfang an auch um den Anspruch auf soziale Gerechtigkeit.

  3. Heidi Meinzolt: Von der Vergangenheit lernen, von der Gegenwart inspiriert und visionär für die Zukunft bleiben. In: Women Vote Peace. Zurich Congress 1919. Zürich 2019, S. 7–9.

  4. Ruedi Epple: Vom «Settlement» zur «Anlaufstelle», der Gartenhof bis 1945. In: Boesch et al: Haus Gartenhof in Zürich, Raum für vernetzte Friedensarbeit, S. 17–97. Zürich 2019.

  5. Clara Ragaz: Ist die Frau Pazifistin? In: Neue Wege 10.1997, S. 278–279.

  6. Care-Arbeit lässt sich nicht nach neoliberalen Wachstumsmodellen organisieren, die Rationalisierung ist schwierig. Die Auslagerung in Billiglohnländer ebenfalls, da es sich um personenbezogene Tätigkeiten handelt. Heute lässt sich feststellen, dass Teile der Care-Arbeit kommodifiziert worden sind, das heisst, sie sind dem Markt unterworfen, müssen also Profit erzeugen. Dabei handelt es sich um spezifische Leistungen in der Pflege oder Betreuung, wo professionelles Wissen gefragt und maschinelle Beschleunigung zum Beispiel mittels Roboter nicht möglich ist.

  7. KOFF, cfd, FriedensFrauen Weltweit, swisspeace (Hrsg.): Kein Frieden ohne Care-Arbeit. Internationaler Leitfaden für Geschlechtergleichstellung, Beiträge der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN-Agenda für Frauen, Frieden und Sicherheit in der Schweiz. Zürich 2021.

  8. Ebd.

  9. Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6.1915, S. 240–254, hier S. 245/246.

  10. Zitat aus einem Workshop zu Demilitarisierung und Abrüstung im September 2023 in Bern, organisiert von FriedensFrauen Weltweit.

  11. Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6.1915, S. 240–254, hier S. 252.

  • Annemarie Sancar,

    *1957, ist Sozialanthropologin. Sie arbeitete für frieda (ehemals cfd) zu kritischer Öffentlichkeits- und Friedensarbeit, zehn Jahre war sie Gender­beauftragte der DEZA, zwei Jahre beschäftigte sie sich bei swisspeace mit der Umsetzung der UNSCR-Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit. Die letzten drei Jahre als Arbeitnehmerin koordinierte sie das feministische Netzwerk von FriedensFrauen Weltweit. Sie engagiert sich transnational in feministischen Netzwerken mit Schwerpunkt Friedenspolitik und Gendergerechtigkeit.