Neue Wege 7/8.2020: gschämig

Redaktion Neue Wege, 19. Juni 2020
Neue Wege 7/8.2020

Ganz unverschämt wird in im Sommerheft der Neuen Wege über Scham gesprochen: Wir alle kennen dieses so körperliche Gefühl, das uns mit Hemmungen, Peinlichkeiten und den eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert. Andrea Zimmermann und Christa Binswanger, beide im Gebiet der Affektforschung tätig, bezeichnen Scham deshalb als «Bad Feeling» – wir fühlen sie nur ungern. Aber genau darin sehen die beiden Wissenschaftlerinnen auch ein Potenzial, sagen sie im Neue Wege-Gespräch. Was wäre, wenn wir dieses unangenehme Gefühl als Anlass nehmen, um über Macht, über gesellschaftliche Strukturen und über deren Transformation nachzudenken?

Beschämung ist ein Akt psychischer Gewalt und eine politische Handlung, sagt auch die Theologin und Psychotherapeutin Dorothee Wilhelm. Aus ihrer Praxis schöpfend, analysiert sie den Teufelskreis der Scham im Hinblick auf psychische Erkrankungen. Und sie benennt Scham auch als Teil der Diskriminierung, der sie als Rollstuhlfahrerin immer wieder ausgesetzt ist. Anhand eines biblischen Vorbildes schlägt Dorothee Wilhelm individuelle und kollektive Wege aus der Beschämung vor. Diskriminierung ist auch für Avji Sirmoglu und Christoph Ditzle ein zentrales Thema: Die beiden sind Mitgründer*innen und -betreiber*innen des Internetcafés Planet 13, dessen Dienstleistungen alle kostenlos und niederschwellig sind. Damit ist der Planet 13 beliebter Treffpunkt für Armutsbetroffene. Sie sind nicht selten Expert*innen zum Thema Scham, erleben Armutsbetroffene doch gerade in der wohlstandsorientierten Gesellschaft in der Schweiz immer wieder starke Beschämung. Oft wird Erwerbslosen beispielsweise fraglos die Schuld für ihre Lebenssituation zugewiesen. Eine Unterscheidung von Scham und Schuld bietet Theologin, Ethnologin und Redaktionsmitglied Esther Gisler Fischer. Sie rezipiert ethnologische Zugänge zum Thema Scham.

Als «gschämig», ein Grund zum Schämen, gilt es nach wie vor, HIV-positiv zu sein. Michèle Claudine Meyer lebt seit über 25 Jahren offensiv mit dem HI-Virus und ist aktiv in der HIV-Politik. Dazu gehört massgeblich auch der Kampf gegen überholte Stereotypen aus den 1980er Jahren, die noch heute Grundlage für die Stigmatisierung und Diskriminierung von HIV-positiven Menschen sind. Die Beschämung lässt die Künstlerin und Aktivistin Michèle Meyer nicht auf sich sitzen: Die Rebellin nutzt ihre Kreativität und transformiert Scham in Widerstand. Die Bilder im Heft geben einen kleinen Einblick in das Schaffen der Künstlerin. 
 

Inhalt

«Bad-Feeling» mit Potenzial
Neue Wege-Gespräch mit Andrea Zimmermann und
Christa Binswanger von Geneva Moser 

Der Teufelskreis der Scham
Dorothee Wilhelm

Verstehen kann verändern
Esther Gisler Fischer

Vom Zusammenhang zwischen Armut und Scham 
Avji Sirmoglu und Christoph Ditzle

Anstoss!: Die Grausamkeit des Schönen 
Serena Owusua Dankwa 

Spielverderberin!
Bildstrecke von Michèle Claudine Meyer

Lesen: Neue Zürcher Zeitung – kritisch betrachtet 
Roman Berger 

Gefühlsduselei*: «Loben ohne Lügen» 
Geneva Moser 

Nadelöhr: Shutdown. Sabbatical 
Matthias Hui

Bestellung (Einzelheft, 32 Seiten, CHF 9.-): 

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