Defund the Police!

Lukas Arnold, 6. Oktober 2020
Neue Wege 10.20

Seit Ende Mai gibt es kontinuierlich jeden Tag überall in New York Demonstrationen: Black Lives Matter! Die Ermordung von George Floyd durch die Polizei in Minneapolis hat sie ausgelöst. Bis zu dreissig Demonstrationen fanden täglich in verschiedenen Stadtteilen New Yorks statt. Über die meiste Zeit sind starke Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in Kraft, somit bleiben die meisten Proteste lokal in den Stadtteilen. Dennoch versammelten sich jeweils Zehntausende Menschen in kraftvollen und überwältigenden Demonstrationen.

Beinahe täglich aufgesucht wurde die Villa von Bürgermeister Bill de Blasio im wohlhabenden Yorkville in der Upper East Side, nur ein paar Strassen südlich von East Harlem. Eine Forderung, die dabei immer wieder auftauchte: «Defund the police!» – Entzieht der Polizei das Geld, weil Schwarze Menschen von der Polizei getötet werden. Stattdessen sollte dieses Geld in die Gemeinschaften von Schwarzen und anderen Menschen of Color fliessen, denn diese sind strukturell benachteiligt. Ein struktureller Rassismus, der nicht offen mordet, sondern langsam tötet. Diese systemische Benachteiligung zeigt sich in der aktuellen Krise aufgrund von Covid­-19 und wird durch diese weiter verschärft.

Ich wohne in East Harlem, einem Quartier, das hauptsächlich von Schwarzen Menschen und Latinxs bewohnt wird – 46 Prozent haben einen hispanischen Hintergrund, mehr als 37 Prozent bezeichnen sich als Schwarze Menschen oder African Americans. Aufgrund der Geschichte von Einwanderer*innen aus Latein­amerika wird es auch als «Spanish Harlem» oder schlicht als «El Barrio» bezeichnet. Auch das «Chinese Harlem» ist Teil von East Harlem. Es grenzt im Osten an das mehrheitlich afroamerikanische Central Harlem und im Süden an die mehrheitlich weisse Upper East Side.
East Harlem ist das Quartier, das in Manhattan am stärksten vom Corona­virus betroffen war: In meinem Quartier ist jede*r dreihundertste Einwohner*in am Virus gestorben. Jede 37. Person wurde bestätigt mit dem Virus infiziert, und mehr als vierzig Prozent der Getesteten haben Antikörper entwickelt. Es ist wohl weltweit eines derjenigen Gebiete, das am stärksten unter der Pandemie leidet.

Dies ist nicht blosser Zufall, sondern das Resultat systematischer und kontinuierlicher Vernachlässigung des Gesundheitswesens in East Harlem. Eines von zwei Spitälern im Quartier, das North General Hospital, wurde 2010 wegen finanzieller Probleme geschlossen. Auch die Schliessung des zweiten Spitals wurde diskutiert, aber bisher nicht umgesetzt. Aufgrund der Unterversorgung mit Schutzausrüstungen erkrankten zu Beginn der Pandemie im verbleibenden Spital derart viele Mitarbeitende an Covid-19, dass der Betrieb nur unter Rückgriff auf Gesundheitsfachkräfte aus anderen US-Bundesstaaten sichergestellt werden konnte. Das Spital war während der Pandemie dermassen ausgelastet, dass eine zulängliche medizinische Versorgung nicht gewährleistet werden konnte: So mussten auf der Notfallstation zahl­reiche Menschen abgewiesen werden. Dies schlug sich auf die Todeszahlen nieder.

Während Sozial- und Gesundheitswesen in Quartieren wie East Harlem strukturell vernachlässigt wurden, betrifft die finanzielle Vernachlässigung nicht alle Behörden: Das Budget der New Yorker Polizei, des NYPD, erfuhr im letzten Jahrzehnt das grösste Wachstum aller städtischen Departemente. Man kann durchaus sagen, dass die strukturelle Vernachlässigung der Gesundheitsversorgung in Communitys of Color zugunsten des Ausbaus der Polizei geschah. Während jetzt aufgrund der Pandemie überall gespart wird, bleibt das Budget des NYPD weitgehend unberührt.

Die überdurchschnittliche Todesrate bei Schwarzen Menschen und People of Color in New York ist also weder zufällig noch biologisch, sondern im Wesentlichen auf die strukturelle Benachteiligung Schwarzer Communitys und Communitys of Color zurückzuführen, auf die Schwächung der staatlichen sozialen Institutionen über Jahrzehnte.

Viele Todesfälle hätten vermieden werden können, wenn die Stadt New York in das Gesundheitswesen – gerade in nichtweissen Communitys – investiert hätte statt in polizeiliche Strukturen. Der Ausbau der Polizei hat hier noch nie zur Sicherheit dieser Menschen beigetragen, sondern wird als Bedrohung wahrgenommen.

Auch die lokale Wirtschaft in East Harlem wurde von der Pandemie überdurchschnittlich hart getroffen. Rettungskredite für Betriebe von Schwarzen und Latinx wurden überdurchschnittlich oft abgelehnt; in der Folge mussten viele Betriebe in East Harlem nicht nur während des Lockdowns, sondern für immer schliessen. Und durch die laxen Arbeitsgesetze verloren Tausende ihren Job – und damit, wie in den USA üblich, auch die Krankenversicherung. Weiter leben hier viele Sans-Papiers, welche weder Anspruch auf eine Sozialversicherung der Stadt noch auf die Pandemiehilfszuschüsse der Bundesregierung haben. Die Notfall-Essensausgaben sind – wie überall in der Stadt – überfüllt.

Es gibt ein Sprichwort hier: Jede Katastrophe in New York trifft die Communitys von Harlem stärker. Der strukturelle Rassismus hat in New York City während der Pandemie Tausende – und in Harlem Hunderte – von Leben gekostet und bedroht noch immer viele Existenzen. Das Coronavirus schaue nicht auf die Hautfarbe, heisst es. Das staatliche Gesundheitswesen aber schon.

  • Lukas Arnold,

    ist Physiker an der Columbia University und studiert nebenbei Psychologie des Rassismus an der City University of New York. Er ist Mitgründer der Linken PoC in der Schweiz.