Ein neuer Rahmen für die Mission

Silvia Regina de Lima Silva, 25. März 2019

Mission muss dekolonisiert werden. Dann kann sie zu einer Bewegung werden, die die Bande zwischen menschlichen Wesen und dem Universum neu knüpft.

Die Verkündigung des Evangeliums hat Lateinamerika in Begleitung des kolonialen Projekts erreicht.1 Zum Verständnis der ersten Erfahrung der kolonisierten Völker mit der Evangelisierung ist es wichtig, grundlegende Elemente des Kolonialismus präsent zu haben, die ihre Spuren im Verständnis und der Praxis der Mission hinterlassen haben.

Neben der Eroberung des Territoriums bedeutete das koloniale Projekt auch die Kon­trolle über die Subjektivität, die Kultur, das Wissen, den Körper und vor allem die Wissens­produktion der kolonisierten Völker. Dies geschah als Folge der Enteignung der kolonisierten Bevölkerungen, durch die Unterdrückung ihrer Wissensproduktion, ihrer Deutungsmuster und ihres symbolischen Universums. Die christliche religiöse Erfahrung war das Instrument, mit dem die Dominierten dazu gezwungen wurden, ihre eigenen Bräuche, die sie mit dem Heiligen verbanden, aufzugeben oder sie im Geheimen auszuüben.

Diese Kolonisierung der religiösen Erfahrungen des Anderen läuft auf die Negierung seines Gottes, seines Weltbilds, seines symbolischen Universums und gar seiner Person hinaus. Die Schwarzen und die Urbevölkerung verschwinden im Kolonisierungsprojekt.2

Dies war das erste Modell der Mission, die Lateinamerika erreichte: eine Evangelisierung, die die Übertragung der Institutionen, Symbole, Begriffe und moralischen Konventionen der europäischen christlichen Kultur bedeutete. Dieses Modell der Mission hat sich nicht nur auf die Kolonisierung des Landes ausgewirkt, sondern auch auf die des Denkens, des Wissens, der Auffassung von Gott und dem Platz, den Gott in der Geschichte einnimmt. Der bis heute in der christlichen Theologie gebrauchte Missionsbegriff folgt dieser Logik. 

Angesichts dieser Tatsachen muss Mission dringend überdacht werden. Das bedeutet für die Kirche, dass sie sich selbst, ihre Daseinsberechtigung, ihre Art, in der Welt präsent zu sein und Geschichte zu machen, überdenken muss. Der erste Schritt dazu ist ein ehrliches Streben nach der Dekolonisation unseres Begriffs von Mission. Damit ein Prozess zur Überwindung der kolonialen Rahmenbedingungen angegangen und eine Öffnung gegenüber der Dekolonisation, der Interkulturalität und dem Dialog der Weisheiten möglich werden kann, schlage ich vor, den Begriff von Mission in dreierlei Hinsicht zu ändern.

 

Dekolonisation und Interkulturalität

Das Christentum, das nach Lateinamerika gelangte, ist aus gesellschaftlicher und historischer Sicht mit der europäischen und später auch der US-amerikanischen Kultur gleichgesetzt worden. Die Werte dieser Kulturen wurden und werden als «christliche Werte» vermittelt, weshalb wir bis heute nicht wissen, was es heissen könnte, die christlichen Werte von unseren ursprünglichen Kulturen und den Kulturen afrikanischer Herkunft ausgehend aufzunehmen. Die Inkulturation strebte danach, die Botschaft des Evangeliums in den verschiedenen Kulturen zu verankern, oft jedoch ohne zu merken, dass die Annäherung an die Kulturen und das Selbstverständnis der Völker durch das koloniale Denken geprägt ist, denn «die Beherrschung hat nicht zugelassen, dass die beherrschten Gruppen eine eigenständige Kultur errichten können, die ihre Identität ausdrückt».3

Die Herausforderung besteht also in einer Dekolonisation, die eine Wiederbegegnung mit den ursprünglichen religiösen Identitäten und Erfahrungen ermöglicht. Im Anschluss an diese Begegnung mit dem, was wir sind, und mit der Vielfalt, die uns innewohnt, kann ein Dialog zwischen den verschiedenen lateinamerikanischen Werten und Wurzeln entstehen, der die interkulturellen Beziehungen als Horizont beibehält. Die Interkulturalität befindet sich in einem Sinnhorizont, der danach strebt, die verschiedenen Weltbilder der Völker wieder aufzugreifen, sie zu würdigen und gegenseitigen Dialog und Bereicherung zu ermöglichen. Das Wiederaufgreifen dieser Werte und Traditionen der Gemeinschaft trägt zu einer Stärkung der Menschen und Gemeinschaften bei, um sie in die Lage zu versetzen, dem Individualismus, dem Konsumismus, dem Wettbewerbsdenken, der Zerstörung der Natur und anderen, der Krise der modernen Gesellschaften eigenen Elementen die Stirn zu bieten.

Absolute Wahrheit?

Die Eroberung der Territorien durch die koloniale Invasion ging einher mit der Eroberung der Körper durch die Arbeitskraft, der Eroberung der Seelen durch die Mission und der Eroberung des Bewusstseins durch die Aufzwingung der Moral des iberischen Katholizismus.4 Die Urbevölkerung und die Nachfahren von AfrikanerInnen wurden ihrer Geschichte, Kultur und Erinnerung beraubt. Ihnen wurde eine neue ethnische, koloniale, negative Identität auferlegt, was zur Folge hatte, dass sie ihres Platzes in der kulturellen Produktion und in der Wissensproduktion in der Menschheitsgeschichte beraubt wurden.

Ausgehend von der Abfolge von Invasionen und Eroberungen, die den Beginn der modernen Welt und die Ankunft des Christentums auf lateinamerikanischem Boden kennzeichneten, kann man zwei differenzierte Entwicklungspole erkennen: den metropolitanen Pol, der sich mit den Metropolen der kolonisierenden Ländern identifiziert, und den kolonialen Pol. Eine der Auswirkungen dieser Art der Organisation der modernen Welt war, dass die Vielfalt an Kulturen, Zeitrechnungen und lokalen Geschichten zu einer einzigen universellen Geschichte mit relativ festen Etappen wurde, in die die Menschengruppen je nach ihrem Entwicklungsstand eingeordnet wurden. Dieser Auffassung nach scheint es, dass die Menschheit sich von einem den Kolonien eigenen Weniger hin zu einem von den Metropolen verkörperten Mehr bewegt.5

Die Mission war traditionell die Art, die indigenen und afroamerikanischen Völker von einem mit den überlieferten religiösen Bräuchen identifizierten Weniger hin zu einem mit der christlichen Religion identifizierten Mehr zu bringen. Diese Sicht geht von einer einzigen Kultur aus, die eine einzige und einförmige Identität hervorbringt und die versucht, Unterschiede auszulöschen und eine soziale Gleichheit herzustellen.6 In dieser Denklinie gibt es keinen Raum für einen Dialog des Wissens und noch weniger für einen interreligiösen Dialog.

Die Mission zu dekolonisieren bedeutet, die Völker in ihrer Suche nach den von Gott offenbarten heiligen Worten, in ihren eigenen Geschichten und Kulturen zu stärken. Es bedeutet, die Achtung vor und den Dialog mit der reichen religiösen Vielfalt zu fördern, die im Innersten des Lebens der Menschen in Lateinamerika und der Karibik ausgedrückt (und teils verheimlicht) wird. Die Sicht einer einzigen absoluten Wahrheit muss zu einer geteilten Sicht der Wahrheit und des Zusammenlebens der Unterschiede übergehen. Wo die Möglichkeiten der Unterschiede ausgeschöpft werden, wo anerkannt wird, dass jedes Volk seine Kenntnisse, seine Wahrheiten und seine Götter mit sich bringt und dass wir uns, zusammen und kritisch, mit unseren vielfältigen Weisheiten und religiösen Erfahrungen gegenseitig bereichern – in einer solchen Gemeinschaft wäre es möglich, verschiedenes Wissen, verschiedene Orte, und verschiedene Arten, Gott zu fühlen und zu erfahren, miteinander zu teilen.

Verkündigung der «guten Nachricht»?

Aus der Anerkennung der verschiedenen in den Traditionen der Völker enthaltenen Weisheiten folgt, dass die «frohe Botschaft» in Lateinamerika der Evangelisierung durch die MissionarInnen vorausgeht. Dies bedingt einen theologischen Perspektivenwechsel, einen Wandlungsprozess für die Kirche. Die verschiedenen Missionserfahrungen auf dem Kontinent waren nicht dazu fähig, den Gott zu hören, der uns innewohnte, der sich in den Kulturen und Religionen der Urbevölkerung, der Nachfahren von AfrikanerInnen und den kreativen religiösen Synthesen der Mestizen ausdrückte.

Es gibt wenige Missionskonzepte, die offen dafür sind, den Gott zu hören und zu betrachten, der sich auf vielfältige Weise in verschiedenen Erfahrungen offenbart – und so Mystik und Kontemplation zum Ausgangs- und Zielpunkt der Mission nehmen. Zwischen dem Ausgangspunkt und dem Ziel steht das Engagement für ein Handeln, das auf Befreiung zielt. Die Mission wird zu einem Akt der kontinuierlichen abwägenden Entscheidungsfindung, unter Geschwistern, auf der Suche nach befreienden Wegen. Dabei handelt es sich um eine gemeinsame Suche, denn es gibt keine vorgefertigte, ganze Wahrheit, keine schon erreichte Befreiung, die man den anderen bringen kann. 

Es geht darum, das Leben aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und an diesen Weg zu glauben, auf diese Suche nach Leben zu setzen und die «frohen Botschaften» zu verkünden (Mk 1, 14­-15), die wir in unserer Mitte erleben.

Dekolonisation und Verantwortung

In einer Mission, die sich für Dekolonisation engagiert, reicht eine Erneuerung ihrer Inhalte, ihrer Formen, ihres Eifers, ihre Methoden und ihre Ausdrucksformen nicht aus. Eine Erneuerung des Missionsbegriffs an sich ist notwendig: Was bedeutet Mission, wenn man das Volk selbst als Subjekt innerhalb des Evangelisierungsvorhabens betrachtet? Was bedeutet es, den Völkern ihr Recht, Gott zu benennen, zurückzugeben? Was bleibt von der Mission übrig, wenn wir ihr ihre autoritären und kolonisierenden Merkmale nehmen?

Mission könnte bedeuten, dabei zu helfen, die Bande zwischen menschlichen Wesen untereinander und darüber hinaus mit den geschaffenen Wesen, mit dem Universum, neu zu knüpfen. Sich nicht im Glauben zu wiegen, dass die «frohe Botschaft» immer und zwangsläufig von aussen kommt, sondern dass sie in einer Praxis entwickelt und offenbar wird, die einen Beitrag zur Befreiung leistet.

Dies bedeutet, dem Volk den Gott zurückzugeben, der dem Volk gehört, der im Leben einfach so präsent ist. Um ihn zu entdecken, ist es notwendig, «den Blickwinkel zu ändern». Das bedeutet, eine andere Sicht auf die Welt, auf die Menschen und auf die Natur zu suchen. Es bedeutet, die Macht und den Markt anders zu sehen – sich anzusehen, uns anzusehen, unsere Geschichte mit den Augen Gottes zu sehen. Mission heisst, uns selbst und unseren Gemeinschaften die Fähigkeit zurückzugeben, uns angesichts der Not der anderen erschüttern und bewegen zu lassen. Das «Leben», das «Leben für unsere Völker», ergibt sich nicht aus der Wiederholung christlicher Worte und Doktrinen, sondern aus der Erweckung des Bewusstseins, des Denkens und des kritischen Handelns, der Stärkung der Solidarität und der Übernahme von Verantwortung für sich selbst, für die anderen und die Welt.●

  1. Paulo Suess erzählt, dass D. Joao III., König von Portugal, in den Jahren 1521­-1557, angesichts der Gefahr, die brasilianische Kolonie zu verlieren, beteuert habe, dass man «nur mit einer Waffe wie dem Evangelium dieses Volk zähmen, Brasilien erobern» könne. Paulo Suess: A catequese nos primordios do Brasil, in: Conversao dos cativos – povos indígenas e missão jesuítica. São Bernardo do Campo. São Paulo 2009, S. 13.

  2. Anibal Quijano: Colonialidad del poder, euro centrismo y América Latina. Buenos Aires, 2000.

  3. Leonardo Boff: Nova evangelização – perspectiva dos oprimidos. Petrópolis, 1990, S. 10­-23

  4. Fernando Mires: La colonización de las almas. Costa Rica, 1987.

  5. Bernal Herrera: Las dos caras de la modernidad: modernidad colonial y metropolitana, in: PASOS, San José, DEI, Nr.131, 2007

  6. Daniel Gutiérrez Martínez: El espíritu del tiempo: 
    del mundo diverso al mestizaje
    . in: Multiculturalismo – 
    desafíos y perspectivas. Mexiko, 2006, S.10.

○ Kürzung und Überarbeitung: Geneva Moser

  • Silvia Regina de Lima Silva,

    ist Direktorin des DEI (ökumenisches Forschungsinstitut) in Costa Rica und Professorin der ökumenischen Abteilung für Religionswissenschaften an der Universidad Nacional von Costa Rica.