Globalisierung der Hoffnung

Sebastian Pittl, 14. April 2019
4.19

Die Postkoloniale Theologie ist heute von grösserer Bedeutung als je zuvor und leistet einen relevanten Beitrag zum Verständnis gegenwärtiger Herausforderungen. Leitend ist dabei die Frage nach den vielschichtigen Verflechtungen von Christentum, Moderne und Kolonialismus – und ihren Konsequenzen.

Mehr als 85 Prozent des Globus haben eine koloniale Vergangenheit. Neben den grossen Kolonialimperien Englands und Frankreichs oder den früheren Imperien Portugals und Spaniens finden sich unter den modernen kolonialen Akteuren auch die Niederlande, Belgien, Italien, Deutschland, Dänemark, die USA, Russland und Japan. Die Wunden dieser Zeit sind bis heute offen. Dazu kommen neue Verletzungen durch einen aggressiven Neokolonialismus, der heute ebenfalls eine zentrale theologische Herausforderung darstellt. Als Beispiele braucht man bloss an den weltweiten Raubbau an Ressourcen durch internationale Konzerne zu denken; an den Druck, der von westlichen Ländern auf viele Staaten des «Südens» ausgeübt wird, um Freihandelsverträge abzuschliessen, die die einheimischen Märkte zerstören; oder die Folgen des primär von den westlichen Staaten verursachten Klimawandels, unter denen in überproportionaler Weise gerade die Bevölkerungen der ärmsten Länder leiden. 

Das was man heute die «westliche Moderne» nennt, ist in seiner Entstehung so tief von den Strukturen und der Geschichte des Kolonialismus geprägt, dass es ohne eine Analyse desselben nicht angemessen verstanden werden kann. Nicht nur ist der Aufstieg Europas zur führenden ökonomischen und militärischen Welt­region ohne die Kolonialgeschichte nicht denkbar, auch wesentliche Elemente, die man heute als Errungenschaften einer modernen «westlichen» Zivilisation betrachtet, wie das Völkerrecht oder die Menschenrechte, haben ihren Ursprung in kolonialen Kontexten. In Philosophen wie Kant und Hegel zeigen sich darüber hinaus die verhängnisvollen Verflechtungen von Aufklärung und modernem Rassismus.1

Als legitimatorische Instanzen der europäischen Eroberungen und der ihr folgenden «civilizing mission»2, aber auch als Kritiker der Ermordung, Misshandlung und Versklavung indigener Bevölkerungsgruppen waren das Christentum und seine Missionar­Innen von Anfang an in die europäische Kolonial­geschichte verstrickt. Die Tätigkeit der Missionar­Innen prägte nicht nur die Gesellschaften ausserhalb Europas massiv, sondern trug auch wesentlich zur Formierung des Selbst- und Weltbildes in Europa bei.3

Die postkoloniale Forschung

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass es sich bei dem Thema «Theologie und Postkolonialismus» weder um eine Angelegenheit der Vergangenheit handelt noch um etwas, das bloss aussereuropäische Kontexte betrifft. Gegenwärtige postkoloniale Forschung richtet den Blick nicht nur auf Herausforderungen für die Länder und Kirchen des sogenannten «globalen Südens», sondern nimmt eine grundlegende Bedingung in den Blick, unter der sich heute jede Begegnung von Menschen, Kulturen und Religionen vollzieht, auch hier in Europa.

Gleichzeitig verweist der Begriff «Postkolonialismus» auf einen sehr spezifischen Zugang, um sich mit dieser globalen Bedingung auseinanderzusetzen. Was man explizit als «Postkolonialismus» (postcolonialism) oder «postkoloniale Studien» (postcolonial studies)4 bezeichnet, ist eine Forschungsperspektive, die sich ausgehend von den prominenten Studien von Edward Said, Gayatri Spivak, Homi Bhaba und anderen in den letzten Jahrzehnten zunächst vor allem im angelsächsischen Raum etabliert hat.

ProponentInnen der postkolonialen Studien sind dabei nicht die ersten, die sich kritisch mit dem westlichen Kolonialismus auseinandersetzen. Analysen des und Widerstand gegen den Kolonialismus insbesondere in den Kolonien reichen selbst so weit zurück wie die Anfänge des europäischen Kolonialsystems. Prominente christliche Beispiele sind diesbezüglich die beiden Dominikaner Antonio de Montesinos und Bartolomé de las Casas, die bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts vehemente Kritik am sich etablierenden spanischen Kolonialsystem übten, aber auch mannigfaltige indigene Widerstandsbewegungen. In den letzten Jahrzehnten haben insbesondere die verschiedenen Befreiungstheologien die Frage kolonialer und neokolonialer Strukturen thematisiert.

Mit den postkolonialen Studien kommt es gegenüber diesen früheren Formen der Kolonialismuskritik zu einer zweifachen Verschiebung. Erstens verschiebt sich der Ort der Analyse und Kritik an westliche, zunächst vor allem US-amerikanische Universitäten. Zweitens verschiebt sich mit der kreativen Rezeption poststrukturalistischer Theorien der Fokus: Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der postkolonialen Studien stehen zunächst einmal weniger ökonomische und politische Strukturen als die Konstruktion von Sinn- und Bedeutungssytemen, also Sprache, Texte und Diskurse.

Konsequenzen für die Theologie

Der erfolgreichen Etablierung der postkolonialen Studien in der angelsächsischen akademischen Welt ist es wohl auch zu verdanken, dass nach der Jahrtausendwende ebenfalls in USA erste Ansätze postkolonialer Theologie entwickelt wurden. Die Rezeption postkolonialen Denkens innerhalb der deutschsprachigen Theologie ist demgegenüber sehr zögerlich erfolgt. Im Gegenteil: Mit dem in den letzten beiden Jahrzehnten abnehmenden Interesse an Befreiungstheologie scheint die Aufmerksamkeit für das Thema Kolonialismus innerhalb der deutschsprachigen Theologie sogar eher zurückgegangen zu sein. 

Es ist wichtig, dass dazu ein Kontrapunkt gesetzt wird. Dies aus drei Gründen: Erstens ist die Auseinandersetzung mit historischen und gegenwärtigen Formen von (Neo-)Kolonialismus für eine Theologie, die angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart (Migration und Flucht, Zerstörung des globalen Ökosystems, Neoimperialismus, Terrorismus und Fundamentalismus, et cetera) sprachfähig bleiben will, heute von grösserer Bedeutung ist als je zuvor. Zweitens kann die Perspektive der postkolonialen Studien einen relevanten Beitrag zum Verständnis dieser Herausforderungen leisten, der von bisherigen Formen ihrer theologischen Bearbeitung (zum Beispiel der befreiungstheologischen) gewinnbringend rezipiert werden kann. Drittens wird postkoloniale Theoriebildung von den Kirchen mit Kolonialgeschichte bei der Entwicklung lokaler Theologien zunehmend in Anspruch genommen, womit die Auseinandersetzung mit diesen Diskursen auch im Sinne der Förderung der innerkirchlichen Verständigung relevant wird.

Leitende Fragen sind dabei der Zusammenhang von (theologischem) Wissen und Macht, die Herausforderung der Entwicklung eines Missionsverständnisses unter postkolonialen Bedingungen, die vielschichtigen Verflechtungen von Christentum, Moderne und Kolonialismus sowie die Konsequenzen, die sich aus einem Ernstnehmen der kolonialen und neokolonialen Erfahrungen für die Gottes­rede, das Verständnis der Bibel, die Religionstheologie sowie die kirchliche Pastoral und Entwicklungszusammenarbeit ergeben. Selbst innerhalb der kritischen Stränge gegenwärtiger westlicher Theologie wie etwa der feministischen oder der politischen Theologie zeigen sich latente Eurozentrismen, wie die Theologin Saskia Wendel belegt. Sie unterstreicht die Bedeutung, die postkolonialer Theorie in der Aufdeckung dieser Eurozentrismen zukommt.

«Postkoloniales» Pontifikat

Postkoloniale Theorie ist keine homogene Lehre, sondern eine vielfältige, bisweilen sogar widersprüchliche Assemblage unterschiedlicher Methoden und Werkzeuge, die von den spezifischen Herausforderungen ihrer jeweiligen Kontexte massgeblich geformt werden.

Papst Franziskus, ein Papst vom «Ende der Welt»4, hat in den letzten Jahren nicht nur in einer Reihe bemerkenswerter symbolischer Gesten die «Ränder» der globalisierten Welt in das Zentrum einer Institution eingeschrieben, die lange Zeit beansprucht hat, die höchste Repräsentationsinstanz sowohl weltlicher als auch geistiger Macht zu sein.5 Er hat dabei – in bisweilen drastischen Bildern – auch die Herrschafts- und Exklusionsstrukturen des neoliberalen «Imperiums» unserer Tage kritisiert. Bereits 2013, noch vor den grossen Migrationsbewegungen von 2015, sprach er auf Lampedusa von einer «Globalisierung der Gleichgültigkeit», die die Menschen unempfindlich werden lasse gegenüber dem Leiden und den «Schreien der anderen». Wiederholt hat er in den letzten Jahren und Monaten auch das Bild eines sich stückweise ausbreitenden «Dritten Weltkriegs» verwendet. Treibende Kraft dieses «Krieges», unter dem vor allem die «Schwächsten» und «Letzten» zu leiden hätten, sei ein «ganzes Netz von Interessen, [...] das Geld [... und] die imperiale oder die konjunkturelle Macht».6 Dieser zerstörerischen Dynamik stellt Franziskus die Vision einer «Globalisierung der Hoffnung» entgegen. Diese sei etwas, was primär «unter den Armen», in postkolonialer Sprache würde man sagen, den «Subalternen», als den eigentlichen Subjekten von Veränderung wachse. Die Globalisierung der Hoffnung ist für Franziskus notwendigerweise vielgestaltig, wie es auch die Menschen und Kulturen dieser Erde sind. 

Es scheint nicht unangebracht, die Relevanz einer zeitgemässen Missionstheologie auch daran zu messen, inwieweit sie in der Lage ist, einen Beitrag zu einer solchen «Globalisierung der Hoffnung» zu leisten. Eine postkolonial informierte Missionstheologie wird versuchen, diesen Beitrag in Demut zu leisten, ohne naive Ansprüche auf Reinheit und Unschuld, sondern im Bewusstsein um die kolonialen Verstrickungen in Vergangenheit und Gegenwart sowie im Bemühen um Solidarität mit den Armen und Ausgeschlossenen gleich welcher konfessioneller oder religiöser Zugehörigkeit. Christliche Hoffnung lässt sich zweifelsohne nicht auf Befreiung aus ökonomischer, politischer und symbolischer Marginalisierung reduzieren. Dass sie diese transzendiert, bedeutet aber nicht, dass sie sich dazu gleichgültig verhalten kann. Wie der spanisch-salvadorianische Jesuit Ignacio Ellacuría vor nun bereits mehr als dreissig Jahren bemerkte, transzendiert christliche Hoffnung das innerweltliche Engagement um Gerechtigkeit, Befreiung und Versöhnung gerade dadurch, dass es – im wahrsten Sinn von «trans-cendere» – an diesem Engagement nicht vorbei-, sondern durch es hindurchgeht, es also antreibt, korrigiert und erst so zuletzt auch überschreitet.7

  1. Vgl. Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft,  Berlin 2014.

  2. Vgl. die päpstliche Bulle Inter Caetera II Papst Alexanders VI. (1493), die die noch zu «entdeckenden» und erobernden Gebiete ausserhalb Europas zwischen dem spanischen und portugiesischen Reich aufteilte.

  3. Vgl. Clemens Pfeffer: Koloniale Repräsentationen Südwestafrikas im Spiegel der Rheinischen Missions­berichte, 1842–1884. In: Stichproben.Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 12/22 (2012), S. 1–33.

  4. So der aus Argentinien stammende Papst Franziskus in seinen Grussworten unmittelbar nach seiner Wahl zum Papst 2013.

  5. Sebastian Pittl: Von Rom nach Lampedusa: Die Exzentrizität der Kirche im «Zentrum» Europa, in: Quart (2/2014), S. 13–14

  6. Vgl. Papst Franziskus: Pressekonferenz auf dem Rückflug von Bangui nach Rom, 30. November 2015.

  7. Vgl. Ignacio Ellacuria: Geschichtlichkeit des christli­chen Heils. In: Jon Sobrino (Hg.) Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung. Luzern 1995 (1995), S. 313–360, 318.

○Der Text basiert auf der Einleitung von Theologie und Postkolonialismus. Ansätze – Herausforderungen – Perspektiven. Das Buch erschien im Anschluss an die im März 2017 am Institut für Weltkirche und Mission (IWM) an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main gehaltene Tagung zum Thema. 

Kürzung und Überarbeitung: Geneva Moser

 

  • Sebastian Pittl,

    *1984, studierte Theologie, Psychologie und Philosophie in Wien und Madrid. Seit 2015 leitet er den Forschungsbereich Interkulturelle Theologie am Institut für Weltkirche und Mission in Frankfurt am Main. Er ist Herausgeber des Sammelbandes Theologie und Postkolonialismus. Ansätze – Herausforderungen – Perspektiven. Regensburg 2018.